[WestG] [LIT] Borggraefe, Schuetzenvereine im Nationalsozialismus, Muenster 2010

Marcus Weidner Marcus.Weidner at lwl.org
Mi Mai 12 17:03:10 CEST 2010


Von: "Thomas Küster" <thomas.kuester at lwl.org>
Datum: 12.05.2010, 15:47


LITERATUR

Henning Borggräfe
Schützenvereine im Nationalsozialismus.
Pflege der „Volksgemeinschaft“ und Vorbereitung auf den Krieg
(1933-1945)
(Forum Regionalgeschichte, Bd. 16)
Ardey-Verlag, Münster 2010 

128 S., brosch., € 12,90
ISBN 978-3-87023-110-1

Schützenvereine erfreuen sich als wichtige Instanzen lokaler
Vergesellschaftung hoher Attraktivität. Doch trotz eines äußerst
ausgeprägten Traditionsbewusstseins klaffen mit Blick auf die Zeit
des Nationalsozialismus große Lücken im eigenen Geschichtsbild. Entweder
klammern die Vereine die Jahre nach 1933 weiträumig aus oder
beanspruchen eine Opferrolle für sich. Dabei berührten die auch in der
historischen Forschung bisher kaum eingehend untersuchten Schützen mit
ihrer Praxis der Gemeinschaftspflege und des Schießens zwei Kernziele
des Regimes: die Realisierung der „Volksgemeinschaft“ und die
Vorbereitung auf den Krieg. Die vorliegende Untersuchung leistet einen
Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den konkreten
Handlungsspielräumen gesellschaftlicher Akteure im
Nationalsozialismus. Sie steht im Kontext der neueren
Forschungsdiskussion zur Bedeutung des Handelns „normaler Deutscher“
im NS-Staat und zur Frage der Wirkungsmacht der „Volksgemeinschaft“.
 
Henning Borggräfe schildert in seiner - vom LWL-Institut für
westfälische Regionalgeschichte veröffentlichten - Studie, wie sich
die Schützenvereine organisatorisch in die reichsweiten
Verbandsstrukturen einfügten und mit dem Nationalsozialismus
arrangierten. Er beschreibt die Aneignung nationalsozialistischer Ziele
und die eigenen Bestrebungen unter den Schützen als zusammenhängenden,
sich wechselseitig beeinflussenden Prozess, der zur Stabilisierung der
NS-Herrschaft beitrug. Als Beispiele für die Entwicklung in Westfalen
dienen ihm ausgewählte Schützenvereine aus Lünen, Hattingen und
Lippstadt. Und diese Beispiele zeigen: Die „Gleichschaltung“ wurde
zwar eindeutig von der NS-Führung eingeleitet und vorangetrieben, es gab
aber auch erhebliche Elemente der Selbstmobilisierung seitens der
Schützen. So versperrte beispielsweise der Westfälische Schützenbund
bereits im Frühjahr 1933 jüdischen Bürgern den Beitritt in den Verband
und die Übernahme von Vorstandspositionen. Zur Jahreswende 1933/34
schlossen dann viele Vereine ihre jüdischen Mitglieder ganz aus. Für die
Vereine selbst blieb mit Ausnahme der Umstellung auf das
„Führerprinzip“ und der Eingliederung in einen neuen Verband
strukturell zunächst einmal vieles beim Alten. Auf personeller Ebene
belegt die Studie, dass die Schützen zunehmend mit der NSDAP
kooperierten, denn die Vereinsmitglieder sahen mit dem neuen Regime die
Möglichkeit gekommen, die alte Konkurrenz zwischen jenen, die den
Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten auf die Wehrhaftmachung legten, und
jenen, die ihre Aufgabe in der Gemeinschaftspflege vor Ort sahen, nun
jeweils für sich zu entscheiden. 

Borggräfe untersucht vor allem die Ausrichtung der Schützenfeste und
internen Vereinsveranstaltungen. Er dokumentiert, dass die symbolische
Herstellung der „Volksgemeinschaft“ und das gemeinsame Bekenntnis zum
„Führer“ in den ersten Jahren der nationalsozialistischen
Herrschaft feste Bestandteile jedes Schützenfestes waren. Das gilt
insbesondere für die traditionsorientierten Vereine, die der von den
Schießsportlern dominierten Verbandsentwicklung skeptisch
gegenüberstanden. Mit der Etablierung des Regimes ab Mitte der 1930er
Jahre wurde der „Hitler-Mythos“ in verschiedenster Form lebendig
gehalten. Allerdings wehrten sich viele Vereine zugleich erfolgreich
gegen die von der Verbandsführung verlangte Anpassung ihrer
Vereinskultur an nationalsozialistische Muster, etwa in der umstrittenen
Frage der Einführung neuer Einheitsuniformen. 

Bereits in der Spätphase der Weimarer Republik verstanden die Schützen
ihren Sport aber auch als Dienst für das Vaterland, indem sie etwa
eigene Jugendabteilungen einrichteten, deren Wehrsportprogramme die im
Versailler Vertrag festgeschriebene Limitierung der deutschen Armee
unterlaufen sollten. Nach der Machtübernahme nutzte die Hitlerjugend
diese Vorarbeiten und installierte unter Mitwirkung der Schützen ein
flächendeckendes Ausbildungsprogramm zur Wehrertüchtigung der Jugend.
Die schießsportlich orientierten Schützen setzten sich für die am
Militärgewehr orientierte Vereinheitlichung der Waffen, den
Schießstandausbau und die Annäherung der Schießpraxis an den
Kriegseinsatz ein. Seit Kriegsbeginn organisierte die SA dann gemeinsam
mit den Schützen ein Massenausbildungsprogramm, in dem alle Männer vor
der Einberufung zur Wehrmacht in dreimonatigen Wehrertüchtigungskursen
kriegsfähig gemacht werden sollten. Bis zum Frühjahr 1942 hatten SA und
Schützenvereine auf diese Weise über zwei Millionen Männer ausgebildet.
Einige Vereine gingen über diese Mitarbeit sogar noch hinaus und riefen
die Bevölkerung in der Lokalpresse auf, sich an der „kostenlosen“
Kriegsvorbereitung auf dem Schützenplatz zu beteiligen. 

Unter den Bedingungen des Krieges stellten viele Vereine ihre Arbeit
1941/42 ein, einige waren aber nachweislich noch bis Ende 1944 aktiv.
Das offizielle Ende ereilte den Deutschen Schützenverband und die
Schützenvereine erst nach der Kapitulation. Infolge des Alliierten
Kontrollratsgesetzes Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 zur Auflösung der NSDAP
und aller ihr angeschlossenen Organisationen wurden sie verboten.


Der Autor:
Henning Borggräfe studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der
Ruhr-Universität Bochum. Das vorliegende Buch basiert auf seiner
Master-Arbeit. Derzeit untersucht er am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der
Ruhr-Universität Bochum im Rahmen seiner Dissertation die Funktion
historischer Expertise und die Bedeutung der Interessenvertretung von
Betroffenen in der Auseinandersetzung um die Entschädigung von
NS-Verfolgten seit den 1980er Jahren.


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