[WestG] [PRO] Alltag und Lebenswelt heimatloser Armer ("Landarme") im 19. Jahrhundert in Westfalen

Marcus Weidner Marcus.Weidner at lwl.org
Don Mar 23 09:20:11 CET 2006


Von: "Lerche, Eva-Maria" <lerchee at uni-muenster.de>
Datum: 22.03.2006, 10:10 


PROJEKT

Forschungsprojekt: Alltag und Lebenswelt heimatloser Armer ("Landarme") im 19. Jahrhundert in Westfalen

Im Mittelpunkt des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts unter der Leitung von Prof. Dr. Ruth-E. Mohrmann steht die Analyse von Alltag und Lebenswelt heimatloser Armer (sog. Landarme) im 19. Jahrhundert in Westfalen. Mit einem subjektbezogenen, mikrogeschichtlichen Ansatz wird die Lebenswelt dieser Unterschichtengruppe in einer Gesellschaft untersucht, die einem rasanten soziokulturellen, ökonomischen und politischen Wandel unterlag. Die zentrale Frage wird sein, welche individuellen und kollektiven (Über-)Lebensstrategien in Not geratene Menschen vor dem Hintergrund des entstehenden staatlichen Fürsorgesystems entwickelten. Wichtigste Quellengrundlage sind die 970 personenbezogen Fallakten des westfälischen Landarmenhauses Benninghausen bei Lippstadt, das als staatliche geschlossene Fürsorgeanstalt für Landarme von 1844 bis 1891 bestand. 

Impulse für die volkskundlich-historische Armutsforschung soll die Arbeit unter drei Aspekten liefern: 
Zum Ersten wird die bislang in der Wissenschaft nur am Rande berücksichtigte Gruppe der heimatlosen Landarmen sowie das preußische Landarmenwesen erforscht. In der Frühen Neuzeit und teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert hinein (z. B. in Bayern) war das Recht auf Armenunterstützung an ein Ortsheimatrecht (in der Regel am Geburtsort) gebunden. Mit dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten legte Preußen bereits 1794 den Rahmen für eine subsidiäre staatliche Unterstützungspflicht für diejenigen Bedürftigen fest, die kein Ortsheimatrecht besaßen, z.B. weil sie als Kinder von Wanderhändlern oder Soldaten an einem zufälligen Ort geboren waren, der nie ihr Wohnort wurde. Mit der Neuregelung des preußischen Armenwesens 1842/43 wurde der Erwerb eines Unterstützungswohnsitzes vor allem durch Erwerbstätigkeit am Zuzugsort ermöglicht, zugleich ging aber auch das alte Heimatrecht nach dreijähriger (ab 1871 nach zweijähriger) Abwesenheit vom Heimatort verloren. Mit dem Gesetz  wurden alle Provinzen verpflichtet, anerkannte heimatlose Bedürftige (Landarme) zu unterstützen, wobei von diesen nur ca. ein Fünftel in einem provinzialen Landarmenhaus wie dem in Benninghausen untergebracht wurde.

Zum Zweiten soll ein umfassender Einblick in die Lebenswelt dieser sozialen Gruppe gewährt werden. Hierzu werden in den Fallakten erhaltene Briefe, Inventare, Schilderungen des Lebenslaufs etc. analysiert sowie aus den Aufnahmebüchern und Personalbögen quantitative Daten über die soziale und regionale Herkunft, das Alter, das Geschlecht, den Beruf und den Familienstand gewonnen. In zahlreichen Fällen sind nicht nur Aussagen über das Leben vor dem Anstaltsaufenthalt möglich, vielmehr existieren auch Informationen über das weitere Schicksal. Dabei zeigt sich schon jetzt, dass die Landarmen nicht als Randgruppe zu betrachten sind, sondern Teil der breiten Armutsschicht von Menschen waren, die täglich durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit etc. in Bedürftigkeit geraten konnten. Untersucht werden außerdem Armutsursachen, soziale Netzwerke und Migrationsverhalten. Ebenso wird der soziale Status der Landarmen sowie Fremd- und Selbstwahrnehmung ihrer Situation in den Blick genommen.

Zum Dritten werden Handlungsmöglichkeiten und -strategien der Landarmen gegenüber der Armenfürsorge herausgearbeitet. Die Analyse folgt den Fragen, wie sich die Armen durch Anpassung oder Widersetzlichkeiten Freiräume schufen, ihre Interessen informell bzw. regelwidrig oder auf dem Rechtsweg, z.B. mit Eingaben bis zum preußischen Innenministerium in Berlin, verfolgten, schließlich wie sie relevantes Wissen über die Armenpflege untereinander weitergaben. Dabei wird die institutionalisierte Armenpflege als ein repressiv-hierarchisches, aber dennoch von allen Akteuren, auch den Landarmen selbst, geprägtes und veränderbares System verstanden. Hierdurch können die Machtstrukturen innerhalb der staatlichen Armenfürsorge sichtbar gemacht werden, die sehr viel differenzierter und verwobener waren, als ein Blick auf die normativen Quellen vermuten lassen würde. Die Anstalt Benninghausen selbst wird dabei aus verschiedenen Perspektiven heraus untersucht: Durch eine Vielzahl kleiner Inf ormationen, die sich aus Eingaben, Bittschriften und Beschwerden der Landarmen sowie Anstaltsdokumenten (z. B. Fluchtberichten, Bestrafungen) ziehen lassen, kann der Alltag in Benninghausen rekonstruiert werden. Detaillierte Etatpläne, Anschaffungslisten und Speisepläne ermöglichen einen Einblick in die Sachkultur der Anstalt. Der Bibliothekskatalog und landwirtschaftliche Berichte verdeutlichen die Ökonomisierungsbestrebungen in Benninghausen. Die - mitunter normabweichenden - Spielräume des Anstaltspersonals, insbesondere der Leitung lassen sich unter anderem anhand des Umgangs mit der Flucht aus der Anstalt oder auch der privaten Pflegeunterbringung in den umliegenden Kreisen analysieren. Dabei wird die Anstalt nicht isoliert betrachtet, sondern auch ihr Verhältnis zu anderen Behörden, zu den umliegenden Kommunen und den Bewohnern des Kreises untersucht. 


INFO

Kontakt:
Eva-Maria Lerche
Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie
Scharnhorststr. 100
48151 Münster
Tel.: 0251/83-25123
E-Mail: lerchee at uni-muenster.de
URL: http://www.uni-muenster.de/Volkskunde/