[WestG] [LIT] Schinkel, Eckhard (Hg.): Totaler Einsatz fuer die
Kriegswirtschaft
Alexander Schmidt
Alexander.Schmidt at lwl.org
Don Apr 21 13:33:36 CEST 2005
Von: "Christiane Spänhoff", <christiane.spaenhoff at lwl.org>
Datum: 20.04.2005, 13:06
LITERATUR
Zwangsarbeit in der Binnenschifffahrt
Westfälisches Industriemuseum stellt neues Buch vor
Im Jahr 1943 war jeder vierte Arbeiter auf deutschen Schiffen
ein "Ausländer": 12.500 Zwangsarbeiter aus 15 Nationen gehörten
zum fahrenden Personal in der Binnenschifffahrt. Einer von ihnen
war der junge Bankangestellte Alfred Dusautier aus Armentières
(Frankreich). Seine Erinnerungen stehen im Mittelpunkt eines neuen
Buchs aus dem Westfälischen Industriemuseum des
Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).
Die erste fundierte Studie zu einem bislang unerforschten Kapitel
in der Verkehrsgeschichte wurde heute (20.4.) im Museum Altes
Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop vorstellt. Herausgeber
Dr. Eckhard Schinkel, wissenschaftlicher Referent im
LWL-Industriemuseum, hat die in ihrer Ausführlichkeit einzigartigen
Erinnerungen des heute 84-jährigen Franzosen durch weitere
Zeitzeugenberichte und historische Dokumente aus dem
Reichsverkehrministerium ergänzt. Seine Forschungsergebnisse
zum Thema Zwangsarbeit in der deutschen Binnenschifffahrt sind
in zwei Studien zusammengefasst.
"Die Veröffentlichung stößt bereits jetzt auf große Resonanz", freut
sich Schinkel. So würdigte Bundesverkehrsminister Dr. Manfred
Stolpe das Buch als "wertvolle Publikation". Dem Westfälischen
Industriemuseum komme das große Verdienst zu, einen bisher
weithin unbekannten Aspekt deutscher Geschichte anhand von
Zeitzeugenberichten wissenschaftlich aufgearbeitet und einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.
Ausländer standen während des Zweiten Weltkriegs in der
Arbeitshierarchie ganz unten, das galt grundsätzlich auch für die
Schiffsbesatzungen. In der kleinen Gemeinschaft an Bord war waren
das Klima aber oft besser. Eckhard Schinkel: "Die Chancen für eine
menschlichere Arbeit unter dem allgemeinen Diktat des Unrechts
waren in der Binnenschifffahrt größer als in der Montan- und
Schwerindustrie." Diese Erfahrungen machte auch Alfred Dusautier.
Er gehörte zu den 4014 Franzosen, die im Jahr 1943 im Rahmen
des S.T.O. (Service du Travail Obligatoire) nach Deutschland deportiert
wurden. Von März 1943 bis April 1945 leistete er Zwangsarbeit bei
der Kanal-Verkehrs-Aktien-Gesellschaft, die längste Zeit davon auf
dem Binnenschiff "Wettstein", das vor allem Kohle und Erze zwischen
dem Ruhrgebiet und Salzgitter transportierte.
1995 begann Dusautier seine Erinnerungen aufzuschreiben und knüpfte
erste Kontakte zum Westfälischen Industriemuseum. Seine mehr als
100 Seiten umfassenden Aufzeichnungen, die das Museum für die
Publikation übersetzen ließ, schildern erlebte und erlittene Wirklichkeit:
die Requirierung, den Bahntransport nach Dortmund und weiter nach
Blexen, die Ausbildung zum Matrosen - und natürlich immer wieder den
Arbeitsalltag. Schwerstarbeit war vor allem der Umschlag der Ladung
in den Häfen: Für das Öffnen und Schließen der Luken mussten zwei
Männer jeweils vier Tonnen Planken und Eisenträger zur Seite räumen:
"Für das Entladen, das in einem höllischen Tempo durch fahrbare
Brückenkräne erfolgte, hatten wir schon am frühen Morgen damit
begonnen, die vielen Planken aufzunehmen, mit denen die Laderäume
abgedeckt waren. Das Schiffsdeck wurde aufgeräumt, man rollte die
Festmachedrähte auf. Das war eine einfache, aber schmerzhafte Arbeit
für die Hände, wenn man über keine Schutzhandschuhe verfügte. Die
KVAG hatte sehr wenig Sorge für unsere persönliche Ausrüstung getragen.
Erst viel später, Anfang Juni 1943, konnte ich mir das erste Paar
gebrauchte Arbeitshandschuhe besorgen im Tausch gegen eine Dose
Ölsardinen, die sich in einem Paket von meiner Mutter befand."
Neben den Erinnerungen Dusautiers und weiterer Zeitzeugen enthält das
Buch auch die Geschichte von Jozef Wieczorkiewiecz aus Polen, der 1999
auf der Suche nach seiner Vergangenheit im Alten Schiffshebewerk nach
54 Jahren seine "Nixe" wiederfand. Auf dem Dampfbereisungsboot leistete
er während des Krieges zwei Jahre lang als Heizer Zwangsarbeit. Heute
liegt die "Nixe" als Museumsschiff in Waltrop vor Anker. Die Schilderungen
des Polen und seine Begegnung in Waltrop, die seinerzeit auch in einem
Videofilm festgehalten wurde, hat Museumsleiter Herbert Niewerth für
das Buch zusammengefasst.
INFO
Totaler Einsatz für die Kriegswirtschaft. Zwangsarbeit in der deutschen
Binnenschifffahrt 1940-1945. Erinnerungen - Dokumente - Studien. Hg.
v. Dr. Eckhard Schinkel, Westfälisches Industriemuseum, Quellen und Studien,
Band 11, Klartext-Verlag, Essen 2005, 12,90 Euro