[WestG] [LIT] Kersting/Schmuhl: Quellen zur Geschichte der
Anstaltspsychiatrie in Westfalen
Marcus Weidner
Marcus.Weidner at lwl.org
Mit Nov 10 14:09:53 CET 2004
Von: "Thomas Küster", <thomas.kuester.lw.org>
Datum: 09.11.2004, 13:46
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LITERATUR
Franz-Werner Kersting/Hans-Walter Schmuhl (Hg.),
Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen.
Bd. 2: 1914-1955,
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004.
ISBN 3-506-71694-8, Euro 64,-.
Subskriptionspreis bei Abnahme der Bände 1 und 2:
Bd. 1: Euro 44,-
Bd. 2: Euro 52,-.
Das Hungersterben in den psychiatrischen Anstalten im Ersten Weltkrieg, die Weimarer Geisteskrankenfürsorge im Zeichen von Reform und Weltwirtschaftskrise, der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug gegen die psychisch Kranken und geistig Behinderten sowie die Psychiatrie der 1950er Jahre zwischen politischem Neuanfang und Reformbeginn, Verdrängung und Aufarbeitung - das sind die Schwerpunkte des soeben in der Veröffentlichungsreihe des LWL-Instituts für Regionalgeschichte erschienenen zweiten Bandes der großen Quellensammlung zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen. Die Publikation knüpft an den ersten, ebenfalls epochenübergreifenden Band von Thomas Küster an, der den Zeitraum von 1800 bis 1914 umfasst. Eine vergleichbare Quellensammlung zur Psychiatriegeschichte gibt es bislang für keine andere deutsche Region.
Der über 800 Seiten umfassende Band von Franz-Werner Kersting und Hans-Walter Schmuhl spiegelt und vertieft die breite zeithistorische Forschung zur Geschichte (und Vorgeschichte) der NS-Psychiatrie. Gleichzeitig greifen die beiden Herausgeber erstmals systematisch über die Zäsur von 1945 hinaus. Sie bieten eine Auswahl von 210 Einzeldokumenten unterschiedlicher Herkunft. Ihre Zusammenstellung berücksichtigt die Perspektiven der Akteure - und Täter - aus Verwaltung, Ärzteschaft und Pflegepersonal, trägt aber auch den leidvollen Erfahrungen von Patienten, Opfern und betroffenen Familien Rechnung. Alle Dokumente sind mit textkritischem Kommentar und ergänzenden Erläuterungen versehen. Eine umfangreiche Einleitung führt in die Gesamtthematik und in die Quellenauswahl ein.
Gleichwohl bildet der Band keine Aktenedition im strengen herkömmlichen Sinne. Er versteht sich vielmehr als "Studienausgabe", die den Leserinnen und Lesern mit Hilfe aussagekräftiger Quellen den Einstieg in ein vielschichtiges und schwieriges Problemfeld erleichtern möchte. In diesem Sinne wendet sich die aktuelle Veröffentlichung des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte ganz bewusst nicht nur an Wissenschaft, Forschung und Studierende, sondern auch an heutige oder ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen innerhalb wie außerhalb Westfalens.
Die abgedruckten Äußerungen und Beiträge spiegeln die ganzen Ambivalenzen und Verwerfungen der jüngeren deutschen Psychiatriegeschichte wider: Auf der einen Seite stehen reformorientierte Texte wie der auch international viel beachtete Erfahrungsbericht des Gütersloher Anstaltsdirektors Hermann Simon über die "Aktivere Krankenbehandlung" (1929) oder die Beschreibung der ersten therapeutischen Gruppengespräche in den westfälischen Heilanstalten aus der Feder des Lengericher Direktors Hans Merguet (1953). Auf der anderen Seite stehen Dokumente zur Praxis der NS-Zwangssterilisationen im Sinne des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", über die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" im Zeichen der "Euthanasie"-Politik wie auch zur Kontinuität der katastrophalen psychiatrischen Versorgungssituation weit über das Kriegsende hinaus.
Dieses Spannungsverhältnis kennzeichnet auch den Dokumententeil über die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: Er zeigt frühe couragierte und heute nahezu vergessene Plädoyers für eine selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit, wie sie zum Beispiel der erste NRW-Ministerpräsident Rudolf Amelunxen (1946) oder der Münsterische Anstaltsarzt Manfred in der Beeck (1957) formulierten. Gleichzeitig lässt er die vergangenheitspolitische Teilnahms- und Gefühllosigkeit unter der ärztlichen und gesellschaftlichen Mehrheit des westdeutschen Wiederaufbaus greifbar werden. Und er macht auf das Problem der skandalösen personellen Kontinuitäten zwischen dem "Dritten Reich" und der jungen Bundesrepublik aufmerksam: Einige der nach 1945 in den westfälischen Kliniken beschäftigten - und in einem Fall sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten - Psychiater hatten sich zuvor an der Umsetzung des NS-"Kindereuthanasie"-Programms beteiligt.
Wie schon bei den vorangegangenen Institutspublikationen zur NS-Zeit, so verknüpft der Landschaftsverband Westfalen-Lippe auch mit dieser Quellensammlung eine doppelte Erwartung: Zum einen geht es um die Verstrickung der westfälischen Psychiatriekliniken in die NS-Rassenpolitik sowie um die Dokumentation des Schicksals der Patientinnen und Patienten. Zum anderen soll die selbstkritische Aufklärung und Erinnerung des Verbandes wachgehalten werden. Das Buch ist als Band 48 der Reihe "Forschungen zur Regionalgeschichte im Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) erschienen. Es ist zum Preis von € 64,- über den Buchhandel zu beziehen.
INFO
Die Herausgeber:
Franz-Werner Kersting, Prof. Dr. phil., geb. 1955, ist Wissenschaftlicher Referent am Westfälischen Institut für Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.
Hans-Walter Schmuhl, PD Dr. phil., geb. 1957, ist selbständiger Historiker ("Agentur ZeitSprung") und Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld.