[Rechtsfr.] OEG Entschädigung bei lange zurückliegender Tat möglich (hier nach 40 Jahren)
Alfred Oehlmann
Alfred.Oehlmann at lwl.org
Mi Jun 18 12:03:23 CEST 2008
Werte Leserinnen und Leser,
wenn hinsichtlich des nachfolgenden Urteils des Hessischen
Landessozialgerichts keine Revision zugelassen wird, dürfte die
Entscheidung für solche Heim- und Internatskinder von Bedeutung sein,
die durch eine nachgewiesene Straftat geschädigt wurden (hier sexueller
Missbrauch im Internat/Heim). Aufgrund des langen Zeitablaufs ist die
Entscheidung in der Regel faktisch wohl nur dann relevant, wenn der
Nachweis einer Straftat durch ein strafrechtliches Urteil erfolgte, da
ansonsten eine Beweisführung nicht mehr möglich sein wird.
Allerdings waren im konkreten Fall die Gerichtsakten schon vernichtet
und das LSG hatte eine mittelbare Beweisführung zugelassen. Auch gelang
hier der notwendige Nachweis der Kausalität der Tat für die Schädigungen
des Klägers. Oft wird durch die Behörden oder Gutachter behauptet, die
Straftat sei nur eine von vielen ungünstigen Ursachen, die die
Schädigungen verursacht hätten und deshalb könnten keine OEG
Leistungen anerkannt werden (siehe auch Fußnote unten).
Worum geht in dem Urteil:
Das Hessische LSG hat entschieden, dass eine Entschädigung für
gesundheitliche Schäden aufgrund eines sexuellen Missbrauchs auch bei
einer vor In-Kraft-Treten des Opferentschädigungsgesetz liegenden Tat
nach diesem Gesetz zu gewähren ist.
Im konkreten Fall ist ein 1950 geborener Mann aus dem
Werra-Meißner-Kreis Anfang der 60er Jahren in einem Internat im
Landkreis Fulda von einem Heimerzieher sexuell missbraucht worden. Der
Erzieher wurde zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der
geschädigte Mann, der später einen Suizidversuch unternahm und eine
Alkohol- sowie Medikamentenabhängigkeit entwickelte, beantragte im Jahre
2003 Opferentschädigung. Das Landesversorgungsamt Gießen lehnte diese
jedoch mit der Begründung ab, die Gesundheitsstörungen könnten nicht
mehr auf die 40 Jahre zurückliegende Tat zurückgeführt werden. Bereits
vor dem Missbrauch sei der Kläger durch das Elternhaus, durch die
unmenschliche und entwürdigende Internatserziehung sowie durch
Mitschüler massiv traumatisiert worden. Die Tat des Heimerziehers sei
daher nur mit geringer Wahrscheinlichkeit für die späteren psychischen
und sozialen Störungen verantwortlich. Das Sozialgericht gab der Klage
statt.
Das Hessische LSG hat das erstinstanzliche Urteil bestätigt.
Das Gericht ist nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der
Auffassung, dass die aufgrund der schwerwiegenden Gesundheitsschäden
eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70% mit
Wahrscheinlichkeit auf der Tat des Heimerziehers beruht. Die anderen
negativen Ereignisse seien zwar Risikofaktoren dafür, Opfer eines
Missbrauchs zu werden. Sie stellten jedoch keine außergewöhnliche
Bedrohung dar.
Einer Entschädigung stehe auch nicht entgegen, dass die Tat vor dem
In-Kraft-Treten des Opferentschädigungsgesetzes im Jahre 1976 begangen
worden ist. Denn auch die vor diesem Zeitpunkt geschädigten Personen
seien anspruchsberechtigt, soweit sie infolge des tätlichen Angriffs
schwerbeschädigt sind und Bedürftigkeit vorliegt. Hiervon sei bei dem
Kläger, der seit 2003 Sozialhilfeleistungen bezieht, auszugehen.
Der Urteil ist beigefügt. Der ebenfalls beigefügte Ratgeber für Opfer
von Gewalttaten bezieht sich zum Teil auf die Situation in NRW,
enthält aber natürlich auch allgemein über die Landesgrenze hinaus
gültige Infos. Zuständig für Anträge nach dem OEG sind in NRW nicht
mehr die Versorgungsämter sondern die Kreise und kreisfreien Städte.
Kompliziert ist in diesen Fällen oft der Nachweis der sogenannten
doppelten Kausalität (siehe Fußnote), die das Gesetz hier verlangt. Dies
gelang jedoch im konkreten Fall.
Mit freundlichem Gruß
Ihr
Alfred Oehlmann
LWL-Landesjugendamt
Westfalen/Münster
Fußnote zur Kausalität (Zitat aus dem Urteil):
"Nach § 1 Abs. 1 BVG hängt die Gewährung einer Versorgung von einer
doppelten Kausalität ab. Die so genannte haftungsbegründende Kausalität
meint den Ursachenzusammenhang zwischen dem nach dem Gesetz geschützten
Vorgang (der Gewalttat) und der Schädigung als schädigenden Vorgang. Die
so genannte
haftungsausfüllende Kausalität meint den Ursachenzusammenhang zwischen
der Schädigung und deren Folgen in gesundheitlicher (Gesundheitsstörung)
und wirtschaftlicher Hinsicht (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann,
Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, § 1 Anmerkung 9). Dabei gilt
im Bereich des OEG ebenso wie in der Kriegsopferversorgung die
Ursachentheorie der
„wesentlichen Bedingung". Danach sind Ursachen die Bedingungen, die
wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt
wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg
beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinander
stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den
Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem dieser
Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser
Umstand Alleinursache im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes
(Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, a.a.O). Für die
Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt
die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Ausreichend ist
danach, dass nach geltender medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung
mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht
(Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, a.a.O., § 1 Anmerkung
10).
Tatbestandsmäßig erfordert § 1 Abs. 1 OEG das Vorliegen einer
gesundheitlichen Schädigung infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
und tätlichen Angriffs".
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