[WestG] [KONF] Wissenschaftler diskutierten auf Einladung des LWL-Institutes für westfaelische Regionalgeschichte über Protestkulturen in der Provinz

Nolte, Kathrin Kathrin.Nolte at lwl.org
Mi Jan 21 08:44:24 CET 2015


Von: Kathrin Nolte <kathrin.nolte at lwl.org>
Datum: 20.01.2014, 15:00 


KONFERENZ

Gegen dörfliche Traditionen und kleinstädtischen Mief? 
Wissenschaftler diskutierten auf Einladung des LWL-Institutes für westfälische Regionalgeschichte über Protestkulturen in der ,Provinz'

Moderne trifft auf Tradition: Während der Tagung "Neue soziale Bewegungen in der ,Provinz' (1970 - 1990)" im vergangenen Dezember wurde schnell deutlich, dass es Protestkulturen auch abseits der großen Zentren wie Berlin, Frankfurt oder München gab. 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und der Schweiz diskutierten auf Einladung des LWL-Institutes für westfälische Regionalgeschichte in Münster darüber, wie das "Andere" im kleinstädtischen und ländlichen Raum wahrgenommen wurde und inwieweit diese sozialen Bewegungen durch Metropolen beeinflusst wurden.

"Der Begriff ,Provinz' ist emotional aufgeladen und bedarf einer genaueren Betrachtung. Das Provinzdenken ist eben nicht nur von Rückständigkeit geprägt, sondern ländliche Regionen wurden häufig als Praxisfeld verstanden", bilanzierte Organisatorin Dr. Julia Paulus vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte. Bislang spielte das ländliche Umfeld in der Forschung eine untergeordnete Rolle. Es gibt kaum Untersuchungen, die den spezifischen Motivationen von Akteuren vor Ort nachgehen, sich politisch zu engagieren und Projekte fernab der Metropolen zu gründen. Historische Bezugspunkte für die Auswertung sollten Vorbilder, Ambivalenzen und Trägergruppen sein. In neun Impulsvorträgen stand an den zwei Tagungstagen die Protest-Vielfalt auf dem Land im wissenschaftlichen Fokus. 

Dr. Hans-Gerd Schmidt aus Detmold thematisierte die 68er-Bewegung am Beispiel des Kreises Lippe und zeigte, welche Aktivitäten es gab und wie die Provinz vor allem durch Jugendliche zum Ort des Experimentierens wurde. Eine seiner zentralen Thesen lautete: "Durch die Protestbewegung im ,verschnarchten' Lippe kam es zur Entprovinzialisierung der Provinz." Mit ihrem Vortrag "Entwicklung und Vernetzung des alternativen Milieus in Konstanz und der Region" lenkte Heike Kempe den Blick auf eine andere Facette der damaligen Diskussion: Gerade in der Provinz ließ sich das ,Eigensinnige' finden, dass Raum für alternative Zugänge zur eigenen Geschichte und zu neuartigen Projekten gab. Impulsgeber war u.a. die 1966 neu gegründete Universität  in Konstanz, die nicht wenige zu der Devise veranlasste:  "Dableiben statt abhauen". Auch Studierende der Universität Tübingen konnten im Rahmen ihrer Projektvorstellung zu "Protestkultur(en) in Tübingen" Antworten auf die Frage finden, wie in der ,kleinen großen Stadt' das Private und das Politische zusammenfanden. Anhand verschiedener Themen wie der umstrittene Bau einer Stadtautobahn, Hausbesetzungen oder die alternative Stadtzeitschrift "Tüte" wurden verschiedene Aspekte der sozialen Bewegungen beleuchtet. Dr. Cordula Obergassel schloss mit ihrem Vortrag "Ein Königreich für einen Probenraum - Die Etablierung alternativer Kultur in Dortmund und Münster (1975 - 1990)" den ersten Tagungstag. Trotz der Gegensätze zwischen Dortmund und Münster etablierte sich in beiden Städten eine alternative Kulturschiene jenseits der traditionellen, vornehmlich in (katholischen oder sozialdemokratischen) milieuzentrierten Zusammenhängen.

Die neue Frauenbewegung in der Schweiz stand zu Beginn des zweiten Veranstaltungstages auf der Agenda. Prof. Dr. Kristina Schulz und Dr. Leena Schmitter von der Universität Bern thematisierten in ihrem Vortrag "Expedition in die Ostschweiz: Der Film ,Lieber Herr Doktor' in der Kampagne für die Liberalisierung der Abtreibung 1977" die Verschiebung der Diskussion um die Volksabstimmung aus dem privaten in den öffentlichen Bereich. Der zuvor gezeigte Film, der in den 1970er Jahren im Rahmen der Kampagne im ländlichen Raum der Ostschweiz vorgeführt wurde, stellte die Abtreibung aus Sicht von Frauen dar. Mit der Jugendbewegung setzten sich Davis Templin (Vortragstitel: "Dem ,kleinstädtischen Mief' entkommen: Jugendzentrumsinitiativen zwischen Großstadtorientierung und Provinzidentität") und Dr. Gunther Mahlerwein (Vortragstitel: "Revolte im Dorf? Innovationspotentiale und Traditionsbezüge ländlicher Jugendzentren") auseinander. Ländliche Regionen wurden durch die Jugendbewegung mobilisiert. Jugendzentren wurden dabei als "Stützpunkte des alternativen Lebens" begriffen. Durch "trostlose" Freizeitangebote setzten sich Jugendliche in den 1960er und 1970er Jahren in zahlreichen Orten für die Schaffung von selbstverwalteten Zentren ein. Hier wurden alternative Infrastrukturen geschaffen, die häufig auch umkämpft waren. Der letzte Tagungsblock beschäftigte sich mit Aussteigern und Umweltaktivisten. Dr. Eva Wonneberger referierte über "Allgäuer Aussteiger als Modernisierer der Provinz und Pioniere ihrer Region". Die Landkommunen in den 1970er und 1980er Jahren experimentierten mit neuen Vergemeinschaftungsformen, Wohnprojekten, alternativen Arbeitsformen, ökologischem Landbau und Tierhaltung. Dabei fungierten die Aussteiger im Allgäu nicht selten als Modernisierer, die von der heimischen Bevölkerung toleriert wurden. Zum Abschluss der Tagung thematisierte Matthias Lieb (Vortragstitel: "Verschnarchte Provinz-Metropole - Umwelt- und Anti-AKW-Bewegungen in Mainz, Wiesbaden und dem Umland") das Aufeinandertreffen von verängstigten Bürgerinnen und Bürgern angesichts von Großprojekten wie Atomkraftwerken mit Akteuren der neuen Umweltbewegung.


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