[WestG] [AKT] LWL-Museumspaedagogen besuchen demenzkranke Menschen, 18.01.2013

Pascal Pawlitta Pascal.Pawlitta at lwl.org
Mi Jan 23 11:46:23 CET 2013


Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 18.01.2013
 
 
AKTUELL
 
Wie neue Erlebnisse alte Erinnerungen wecken
LWL-Museumspädagogen besuchen demenzkranke Menschen – barrierearme Museen
 
"Herr Solbrig, kennen Sie das hier?", fragt Börje Nolte und hält ein schweres Gerät quer über den Tisch, das wie eine Spitzhacke aussieht. "Ne, das haben wir nicht gehabt", sagt der ältere Herr, der kerzengerade auf der Bank sitzt. "Als Sie auf dem Pütt gearbeitet haben, gab es die Keilhaue nicht?", fragt Nolte und schiebt die Ärmel seines blauweißen Grubenhemdes ein bisschen weiter nach oben. "Ne, da haben wir mit Abbauhämmern gearbeitet", sagt Werner Solbrig und wiegt das Werkzeug in seinen großen Händen.
 
Börje Nolte nickt und greift unter den Tisch in einen Eimer. Er holt ein Stück Seife hervor und reicht es seiner Sitznachbarin. "Frau Preuß, riechen Sie mal!" Die Seniorin fasst Noltes Unterarm an, strahlt über das ganze Gesicht. Erst dann nimmt sie die Grubenseife und schnüffelt einmal kurz. "Jaja, das kenne ich von früher. Das haben wir auch benutzt."
 
Werner Solbrig und Christa Preuß sind zwei von acht Bewohnerinnen und Bewohnern, die in einem der drei Feierabendhäuser der Diakonie Ruhr in Witten leben. Sie leiden unter schwerer Demenz, sind ständig auf Hilfe angewiesen. Am Nachmittag haben sie vergessen, was sie zu Mittag gegessen haben; die Gegenwart ist für sie kaum fassbar. Wenn aber der Mitarbeiter des LWL-Industriemuseums Zeche Nachtigall kommt – verkleidet als Steiger, mit schweren Arbeitsstiefeln, Schienbeinschonern, beigem Arbeitsanzug, Halstuch und Helm –, beschäftigen sie sich mit ihrer Vergangenheit.
 
"Wir versuchen, die Sinne mithilfe von Exponaten zu aktivieren und darüber ins Gespräch zu kommen", erzählt der 36 Jahre alte Diplom-Pädagoge, der nach einem Praktikum auf der Zeche Nachtigall auch seine Diplomarbeit über die Erwachsenenbildung in Industriemuseen schrieb. "Meistens lassen sich die Bewohnerinnen und Bewohner auf das Thema ein, manchmal aber plaudern wir auch über etwas ganz anderes: Ich muss mich immer auf das einstellen, was die Menschen gerade bewegt – Hauptsache, Kommunikation entsteht." Das kann auch dazu führen, dass zum Beispiel die Dame, die links neben Nolte sitzt, ihn mehrfach darauf anspricht, dass er ihrem Bruder so ähnlich sehe. Er antwortet geduldig. "Das kann schon sein. Das liegt wohl an der Bergmannskleidung und der Kohle im Gesicht." Die Frau nickt, schaut ihn nochmals lange an. Mit der Antwort scheint sie sehr zufrieden zu sein.
Börje Nolte am Tisch im Gespräch mit Senioren
Börje Nolte und seine beiden Teammitglieder haben seit Oktober 2010 rund 130 Besuche in 26 Einrichtungen gemacht. 
 
Das Programm "Kohle weckt Erinnerungen" gliedert sich in fünf Teile, die Börje Nolte gemeinsam mit der Museumspädagogin des LWL-Industriemuseums, Anja Hoffmann, entwickelt hat – mal kommt der Steiger nach der Schicht zu Besuch, mal feiert Noltes Kollegin Hildegard Priebel den Geburtstag von Kumpel Klaus, bei dem noch Kuchen übrig geblieben ist. Mal geht es um Ziegel, die Werkstätten auf der Zeche oder das Erbsensuppenessen aus dem Henkelmann. Die Nachmittage sind Teil der Kulturvermittlung des LWL-Industriemuseums, das sich schon seit mehr als zehn Jahren mit dem Thema Barrierefreiheit auf allen Ebenen auseinandersetzt. "Die Museumspädagogik ist ein Vorreiter, wenn es um Inklusion geht", sagt Anja Hoffmann. Im LWL-Industriemuseum starteten die ersten Versuche in der Ziegelei Lage im Kreis Lippe. "Die Kolleginnen und Kollegen haben damals mit verschiedenen Vermittlungsformaten experimentiert. Vor jeder Ausstellung haben sie mit Seniorenheimen zusammengearbeitet und Menschen im Rollstuhl und mit Rollatoren
eingeladen."
 
Das Thema nahm im Jahr 2009 Fahrt auf, als die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde. "Öffentliche Gebäude mussten barrierefrei werden, was für Museen wie unsere eine besondere Herausforderung darstellt", sagt Anja Hoffmann. Wie kann man es schaffen, einen Hochofen oder ein Bergwerk so zu gestalten, dass tatsächlich jeder Mensch dorthin kann? "In Gänze wohl gar nicht. Wir reden bei uns daher mittlerweile auch eher von barrierearmen Museen", sagt Anja Hoffmann.
 
In dieselbe Richtung geht auch das Projekt, bei dem Börje Nolte die Seniorenheime besucht. "Für viele Einrichtungen ist es organisatorisch, aber auch finanziell nicht einfach, eine Gruppe von dementen Menschen inklusive Betreuerinnen und Betreuern zu uns ins Museum zu bringen – außerdem wollen das manche Demenzkranke auch gar nicht, weil zu viel Unruhe sie selbst noch unruhiger macht." Die Besuche sind eine gute Alternative: Nolte und seine beiden Teammitglieder haben seit Oktober 2010, als sie mit dem  Bergarbeiterthema begonnen haben, rund 130 Besuche in 26 Einrichtungen gemacht. "Alleine dieses Jahr hatten wir bereits 340 Teilnehmende, und die Nachfrage steigt", sagt der gebürtige Düsseldorfer.
Für die richtige Ansprache der Bewohner des Altenzentrums holt sich Börje Nolte Rat bei der Pflegedienstleiterin Martina Große Munkenbeck.
Die Gruppe, der Börje Nolte das Programm anbietet, ist klar definiert. "Das sind alles schwer demente Menschen, an die wir nur sehr schwierig herankommen", sagt Martina Große Munkenbeck. Für die Pflegedienstleiterin des Altenzentrums, in dem 118 Beschäftigte für fast 200 Menschen sorgen, ist die Zusammenarbeit ein Gewinn. Der gut vorbereitet werden muss: "Die demenziell erkrankten Menschen brauchen Orientierungshilfen und Rituale, damit sie ihren Tagesablauf  strukturieren können. Um das besser einschätzen zu können,haben die Beschäftigten des Museums  eine Schulung im Umgang mit Demenzkranken gemacht",sagt Martina Große Munkenbeck. "Außerdem haben wir gerade am Anfang sehr viel vor und nach den Sitzungen besprochen." Die museumspädagogischen Kräfte lernten zum Beispiel, nur wenige Gegenstände mitzubringen, um den Fokus der Bewohnerinnen und Bewohner nicht zu verlieren. Oder den Ablauf immer gleich zu gestalten, damit nicht zu viele neue Reize gesetzt werden.
 
"Wir würden gerne weitere Projekte mit dem Museum beginnen", sagt Martina Große Munkenbeck. Die Museumsleute brächten genügend Hintergrundwissen und eben auch den richtigen pädagogischen Umgang mit. "Ein wichtiger Teil unserer Tätigkeit ist die biografische Gedächtnisarbeit. Wir versuchen, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie deren Familien herauszufinden, was die Menschen interessiert, was und wo sie gearbeitet haben, welche Hobbys sie hatten." Gerade im Ruhrgebiet hätten viele einen Bezug zum Bergbau. "Manche waren selbst Bergleute, andere hatten Väter, Brüder oder Onkel, die unter Tage gearbeitet haben." Diese Erinnerungen sind wichtig, auch wenn die meisten demenzkranken Beteiligten nach einigen Stunden vergessen haben, dass Börje  Nolte überhaupt da war. "Sie sind merklich ruhiger und entspannter als sonst", sagt Martina Große Munkenbeck.
 
Am Ende des Besuchs werden die Bewohnerinnen und Bewohner allerdings sehr unruhig. Im positiven Sinne. Nolte stimmt das unter Bergleuten wohlbekannte Steigerlied an. "Glück auf, Glück auf,  der Steiger kommt", singen die Seniorinnen und  Senioren mit, bei der Zeile "und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezündt’" sind alle  dabei. Ein Mann, der zuvor gar nichts gesagt hatte,  singt am lautesten. Und bei der Zeile "und damit so fahren wir bei der Nacht ins Bergwerk ein" fließt  ihm eine Träne über die Wange. Auch ihn hat Börje  Nolte erreicht, ganz zum Schluss.


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