[WestG] [AKT] Zehen beißen statt Kamelle werfen: LWL-Volkskundler haben alten westfaelischen Karnevalsbrauch erforscht

Alexander Schmidt Alexander.Schmidt at lwl.org
Di Mär 1 10:48:16 CET 2011


Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 28.02.2011, 14:29


AKTUELL

Zehen beißen statt Kamelle werfen:
LWL-Volkskundler haben alten westfälischen Karnevalsbrauch 
erforscht

Rosenmontag ist heute der Tag der großen Umzüge, der 
Motto-Wagen und der farbenprächtigen Kostüme - die 
Karnevalsumzüge sind am Rosenmontag auf allen Fernsehkanälen 
unangefochten das Thema Nummer Eins. "Bei dieser Vorherrschaft 
des Prinzen Karneval ist fast in Vergessenheit geraten, dass 
früher mancherorts an diesem Tag auf ganz andere Weise gefeiert 
wurde: In einigen Gebieten Westfalens hatten sich zur Fastnacht 
eigene regionaltypische Bräuche herausgebildet - zum Beispiel 
im Hochsauerland, das seit jeher ausgesprochene 
Fastnachtshochburg war", sagt Peter Höher von der 
Volkskundlichen Kommission für Westfalen beim 
Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).

Die Bezeichnung "Rosenmontag" war dort lange Zeit unbekannt, 
und Karnevalsumzüge wurden erst nach dem Ersten Weltkrieg 
populär. Stattdessen gab es einen skurril anmutenden, den 
"närrischen Tagen" durchaus angemessenen Brauch: "Am 
Fastnachtmontag hatten nämlich im Hochsauerland die Frauen 
gewisse Vorrechte, und die nutzten sie weidlich aus. In Gruppen 
streiften sie durch Haus, Hof und Gassen und versuchten eines 
Mannes, der mehr oder weniger zufällig in der Nähe war, habhaft 
zu werden. War das gelungen, so hielten sie ihn fest, zogen ihm 
die Schuhe auf und - bissen ihn in den großen Zeh", erklärt 
Höher den närrischen Brauch.

Das war natürlich nicht so einfach, denn welcher der meist 
jungen Männer wollte sich so einfach einfangen lassen? Und wer 
gab schon freiwillig seine Schuhe her? "So begann, wohl auch 
durch Alkohol befeuert, ein wildes Jagen, ein Handgemenge und 
eine Balgerei - dieses 'Vorspiel' wird nicht weniger wichtig 
als das Zehenbeißen selbst gewesen sein, denn eine gewisse 
erotische Komponente war dem Ganzen nicht abzusprechen", 
berichtet Höher. "Im Übrigen galt es durchaus als Auszeichnung 
und keineswegs als Kränkung, wenn man als "Opfer" ausersehen 
wurde. Junge, unverheiratete Männer scheinen bevorzugtes Ziel 
einer solchen 'Weiberjagd' gewesen zu sein. Ein junger Mann, 
der dabei links liegengelassen wurde, musste sich so seine 
Gedanken machen."

Am Fastnachtsdienstag gingen dann die jungen Burschen von Haus 
zu Haus, um Würste zu sammeln und einen Schnaps zu erbitten. 
Bei dieser Gelegenheit ging das Spiel von vorn los - nun mit 
umgekehrten Rollen: Die Männer und Burschen wollten "Rache" 
nehmen und den Frauen und Mädchen heimzahlen, was ihnen tags 
zuvor widerfahren war. Bei älteren Herrschaften oder 
"bessergestellten" Personen ging man übrigens etwas weniger 
ungestüm zu Sache. Wie Augenzeugen berichten, verzichtete man 
auf das Zehenbeißen und begnügte sich damit, ihnen eher 
symbolisch mit einem Tannenzapfen oder einen Strohwisch über 
die Schienbeine zu reiben.

Diese "bessergestellten Personen" waren es, die sich seit den 
1860er Jahren über diesen Fastnachtsbrauch empörten und seine 
Abschaffung forderten. Die Geistlichen wetterten von der Kanzel 
und die Lehrer schärften es ihren Schülern ein: Das Zehenbeißen 
sei roh, unsittlich und unhygienisch - kurzum: ein Makel für 
das Sauerland. Das "einfache Volk" war offensichtlich anderer 
Meinung, denn jedes Jahr am Fastnachtsmontag ging das Spiel 
wieder los.

"Nach einiger Zeit empfand man den Fastnachtsbrauch plötzlich 
als peinlich - als Hinterwäldler wollte man nicht angesehen 
werden", so Höher. Auch wenn das Zehenbeißen in einigen Orten 
nachweislich noch in den Jahren zwischen den Weltkriegen 
praktiziert wurde, stritten in den 1950er Jahren bei einer 
Umfrage einige ältere Sauerländer rundweg ab, dass es diesen 
Brauch wirklich gegeben habe.


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