[WestG] [AKT] Uni Muenster: Susanne Muhle untersucht Entfuehrungen durch die Stasi

Marcus Weidner Marcus.Weidner at lwl.org
Fr Okt 16 10:11:09 CEST 2009


Von: "Pressestelle der WWU Münster <pressestelle at uni-muenster.de>"
Datum: 16.10.2009, 10:00


AKTUELL

Verschleppt

Historikerin der WWU, Susanne Muhle, untersucht Entführungen durch die
Stasi

Ein fingiertes Telegramm einer kranken Angehörigen, K.o.-Tropfen im
Bier oder einfach brutale Gewalt - die Methoden der Stasi waren
vielfältig und einfallsreich, wenn es darum ging, Regimegegner und
Kritiker aus der Bundesrepublik zu entführen, um sie in der DDR einem
Gericht auszuliefern. Die Historikerin Susanne Muhle hat über 400 Fälle
in den Akten der Birthler- und anderer Behörden gefunden. Für ihre
Promotion am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität
Münster hat sie sich vor allem für die Entführer interessiert.
Finanziell unterstützt wird ihr Forschungsvorhaben durch ein Stipendium
der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

„Die Stasi betrieb bei den Entführungsaktionen einen unglaublichen
Aufwand", berichtet sie. Die Zielpersonen wurden genauestens beobachtet,
um ihre Lebensgewohnheiten herauszufinden. Jede Kleinigkeit notierten
die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Von Interesse waren zum Beispiel die
Trinkgewohnheiten. Diese IM-Berichte liefern in den Stasi-Akten oft die
entscheidenden Hinweise, dass eine Entführung stattfand. Denn nur in
einigen Fällen sind detaillierte Entführungspläne vorhanden, die von der
Führungsspitze des MfS abgesegnet wurden. Dafür gibt es Hinweise, dass
Akten vernichtet oder in Teilen gesäubert worden sind.

„Deshalb müssen bei manchen Entführungen verschiedene Anhaltspunkte wie
Puzzleteilchen zusammen gesetzt werden", erklärt Muhle, „Die Stasi
sprach beispielsweise von ,Zurückführung' oder auch ,Zurückholung', wenn
es sich um einen ehemaligen Stasimitarbeiter handelte, der in den Westen
geflohen war." Die Westberliner Polizei führte eine Liste über Menschen,
die spurlos verschwunden sind. Mitunter sind darin auch Tatverdächtige
aufgeführt. Diese Liste ist für Muhle die Grundlage ihrer Arbeit. Der
Abgleich mit den Stasi-Unterlagen in der Birthler-Behörde zeigt, dass
vielen dieser Menschen in der DDR der Prozess gemacht worden ist, sie
also entführt worden sein müssen.

„In den offiziellen Festnahmeberichten heißt es häufig nur ,Berlin' als
Ort der Festnahme. Man kann also nicht erkennen, ob Ost- oder Westberlin
gemeint ist. Manchmal wurden die Berichte auch komplett gefälscht",
erklärt die 29-Jährige die komplizierte Aktenlage. Neben den
Spitzelberichten gibt es noch weitere Hinweise, dass die Opfer gewaltsam
entführt wurden: Aktenvermerke, dass keine Wohnungsdurchsuchung
stattgefunden hatte, weil die ostdeutsche Vopo ja schlecht westdeutsche
Wohnungen durchsuchen konnte, oder Warnungen an die Entführer, weil ihre
Opfer wieder aus dem Gefängnis entlassen wurden.

Die Opfer, das waren zumeist Dissidenten und Regimekritiker, die aus
der DDR geflohen waren, aber auch westliche Geheimdienstmitarbeiter. Die
Entführer, das waren - einfache Kriminelle aus dem Westen, wie Muhle
herausgefunden hat. „Der Verrat dieser IM hat eine ganz eigene Qualität.
Denn sie haben nicht nur Informationen über Menschen an die Stasi
ausgeliefert, sondern die Menschen selbst - im vollen Bewusstsein, dass
langjährige Haftstrafen und sogar der Tod drohten", beschreibt die
Historikerin. Während andere IM die Möglichkeit hatten, sich ihr Tun
damit schön zu reden, dass sie doch keinem Menschen direkt schaden
würden, hatten das die IM, die an Entführungen beteiligt waren,
nicht.

„In den Augen des MfS hatte der Einsatz von Kriminellen mehrere
Vorteile", beschreibt Muhle. „Sie hatten keine Skrupel und machten für
Geld alles, ohne Fragen zu stellen." Die kriminellen Aktivitäten wurden
in den Einschätzungen der Stasi offen beschrieben als „operativ
interessantes Merkmal". Diese IMs konnten zum Problem werden, denn
natürlich war es sehr sensibles Wissen, das sie mit sich trugen. Doch
nicht nur Kriminelle machten mit beim Menschenraub, zum Teil waren es
auch DDR-Bürger, die geflohen waren und zurückkehren wollten. Durch eine
Entführung wollten sie sich die Erlaubnis dazu erkaufen. 50
IM-Biografien hat die Historikerin untersucht, das sei, so bemerkt sie,
„nach stastischen Maßstäben nicht repräsentativ", zumal unklar ist,
wie viele IMs tatsächlich an einer Entführung beteiligt waren.

Nach dem Fall der Mauer wurden insgesamt 13 IM, die an Entführungen
beteiligt waren, angeklagt. Sieben von ihnen wurden zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt, die bei allen zur Bewährung ausgesetzt
wurde. „Es sind bereits viele Opfer und Täter gestorben oder wegen ihres
Alters oder Krankheiten nicht mehr verhandlungsfähig", erklärt Muhle die
geringe Zahl. Schließlich war der staatlich angeordnete Menschenraub ein
Phänomen der 1950er Jahre, nach 1962 wurde nur noch eine Handvoll
Menschen entführt.

Warum wurde ein unglaublicher Aufwand betrieben, um die vermeintlichen
Verbrecher zurück in die DDR zu holen, um sie dort verurteilen zu
können? „Die DDR hat sich permanent vom Westen bedroht gefühlt, es
herrschte eine regelrechte Spionagehysterie. Allen Systemkritikern wurde
unterstellt, sie seien vom Westen kontrollierte Agenten und Saboteure."
So lässt sich auch das widersprüchliche Verhalten der Staatssicherheit
erklären: Während auf der einen Seite alles getan wurde, um den
Menschenraub zu verschleiern, diente er auf der anderen Seite dazu,
Allmacht zu demonstrieren. Der lange Arm des DDR-Regimes reichte über
die Grenzen des eigenen Landes hinaus.


INFO

Links: http://www.uni-muenster.de/Geschichte/hist-sem/NZ-G/L2/ 
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II


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