[WestG] [AUS] Aufbau West - Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Lage, 15.06.-21.09.2008

Alexander Schmidt Alexander.Schmidt at lwl.org
Fr Jun 13 10:41:41 CEST 2008


Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 12.06.2008, 11:31


AUSSTELLUNG

Ausstellung im LWL-Ziegeleimuseum 
Aufbau West - Neubeginn zwischen Vertreibung und 
Wirtschaftswunder

Der 'Aufbau Ost' provoziert seit Jahren politische Diskussionen. 
Was viele nicht wissen: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges 
verlief der Transfer in entgegengesetzter Richtung. 
Arbeitskräfte, Know-how und Unternehmergeist aus dem Osten 
trugen maßgeblich zum hiesigen Wirtschaftswunder bei. Das zeigt 
der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) vom 15. Juni bis 
21. September in der Ausstellung 'Aufbau West' in seinem 
Ziegeleimuseum in Lage (Kreis Lippe). Die Ausstellung war 
2005/06 in der Zentrale des LWL-Industriemuseums in Dortmund und 
2007 im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen zu sehen.

Über 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen nach 1945 in 
die westlichen Besatzungszonen. 'Aufbau West' nimmt ihre 
Leistungen und Erfahrungen in den Blick. Schwerpunkt ist die 
Entwicklung in Nordrhein-Westfalen, wo Ende der 1950er Jahre 
fast jeder fünfte Einwohner aus dem Osten kam.

50 Zeitzeugen hat das Ausstellungsteam befragt, 800 Exponate 
zusammengetragen. Das Spektrum reicht von der Anstecknadel bis 
zum Drahtwebstuhl, vom Streichholzbriefchen bis zum Bahnwaggon, 
vom historischen Radiospot bis zum Heimatfilm. Projektleiterin 
Dr. Dagmar Kift: 'Wir zeigen keine abstrakte Industriegeschichte,
 sondern stellen Menschen in den Mittelpunkt. Die Ausstellung 
macht deutlich, wie sich die Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen 
einlebten und gemeinsam mit den Einheimischen den oft 
schwierigen Neuanfang bewältigten.'


Hintergrund
 
Ablehnung und Hilfsbereitschaft

Ein Stimmengewirr unterschiedlicher Sprachen sowie Fotos von 
zerstörten Städten im Ruhrgebiet und ländlicher 'Idylle' im 
Münsterland empfangen die Besucher im Ausstellungsgebäude. 'Die 
Ankunft im Westen bedeutete für die meisten Flüchtlinge und 
Vertriebenen zwar Sicherheit, aber willkommen waren sie in der 
Regel nicht', fasst Dr. Dagmar Kift ein Ergebnis der Befragung 
von Zeitzeugen zusammen. Die durch Flucht und Lageraufenthalte 
gezeichneten Menschen mit ihrem fremden Dialekt habe niemand 
aufnehmen und durchfüttern wollen. Vor allem auf dem Land war 
gesellschaftliche Ausgrenzung überwiegend die Folge.

Anders in den großen Städten: Viele Bewohner, insbesondere des 
Ruhrgebiets, waren selbst in den Osten evakuiert worden und 
mussten von dort ebenfalls zurückflüchten. Kift: 'Sie teilten 
viele Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen. Auch sie 
wurden in Notunterkünften oder ehemaligen Zwangsarbeiterlagern 
untergebracht und mussten viel Improvisationstalent aufbringen, 
um nicht zu verhungern oder zu erfrieren.' Ein Etagenbett aus 
der Notunterkunft, Fotos, Dokumente und hinübergerettete Dinge 
aus der alten Heimat veranschaulichen das Thema. Private 
Leihgeber haben Erinnerungsstücke beigetragen - darunter ein 
Plüschaffe, der die neunjährige Susanne Wiesner auf der 
Vertreibung aus Schlesien tröstete.

Wirtschaft und Gesellschaft

Die meisten Vertriebenen wurden zunächst in den ländlich 
geprägten Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern 
untergebracht. Nach 1948 brachten mehrere Umsiedlungsaktionen 
Hunderttausende nach Nordrhein-Westfalen, das sich zum 
Bundesland mit dem größten Flüchtlingsanteil entwickelte. 'Hier 
ersetzten die Menschen aus dem Osten die in der Montan- und 
Bauindustrie fehlenden Arbeitskräfte. In der Textil- und 
Bekleidungsindustrie, der Glasbranche und im Maschinenbau 
siedelten sie als Unternehmer neue Produktionszweige an', 
erläutert die Projektleiterin. Die Ausstellung stellt Beispiele 
aus diesen Branchen vor und lenkt in 'biografischen Häuschen' 
immer wieder den Blick auf einzelne Lebensgeschichten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trug der Bergbau maßgeblich zum 
Wiederaufbau der Wirtschaft bei - obwohl ein eklatanter Mangel 
an Arbeitskräften die Produktion hemmte. Militärregierung, 
Unternehmen und Arbeitsämter warben deshalb gezielt Menschen aus 
den Flüchtlings-Aufnahmeländern an. Bis 1954 wurden rund 800.000 
Bergleute neu eingestellt. Sie kamen in Städte, die der Zweite 
Weltkrieg in Trümmerlandschaften verwandelt hatte. Der 
Wiederaufbau stellte daher vor allem die Bauindustrie vor große 
Herausforderungen, weil Rohstoffe fehlten und die Infrastruktur 
zerstört war.

Das berühmte Bild der 'Trümmerfrauen' steht für die Stunde Null. 
In den Folgejahren fanden viele Flüchtlinge und Vertriebene in 
der Bauindustrie Beschäftigung - wenige als Unternehmer, viele 
als Arbeiter wie Gerhard Lorenz aus Voigtsdorf (Niederschlesien),
 der als zwölfjähriger nach Flucht und Vertreibung mit seiner 
Familie in Bocholt (Kreis Borken) ankam. Von 1950 an arbeitete 
er 38 Jahre lang als Maurer bei verschiedenen Bauunternehmen in 
der Region. An die erste Zeit in der 'Fremde' hat er nicht nur 
gute Erinnerungen: 'Auf Gemeindefesten konnte es schon zu 
Entgleisungen von Einheimischen kommen, die die Vertriebenen 
beschimpften und auf Distanz hielten', erzählt der heute 
69-Jährige.

Neben einzelnen Lebensläufen stellt die Ausstellung anhand von 
Bauplänen, Fotos und historischen Werkzeugen auch typische 
Siedlungsprojekte der Zeit vor: die mit Marshallplan-Mitteln 
erbaute MSA-Siedlung im Dortmunder Stadtteil Scharnhorst und die 
Barkhof-Siedlung in Nordwalde (Kreis Steinfurt). 'Diese beiden 
Siedlungen stehen für die Integrationspolitik in 
Nordrhein-Westfalen, denn hier wurden Einheimische und 
Zugewanderte bewusst gemeinsam untergebracht', erläutert Dr. 
Andreas Immenkamp vom Ausstellungsteam. Die Flüchtlingsstadt 
Espelkamp in Ostwestfalen - zu sehen in einem Werbefilm von 1954 
mit dem Schauspieler Horst Tappert als Protagonist - war vom Typ 
her die Ausnahme.

Die Textilindustrie war vor dem Krieg durch eine weitgehende 
regionale Arbeitsteilung gekennzeichnet. Während etwa im 
Münsterland, im Aachener Raum und in Krefeld die 
Baumwollindustrie bzw. die Wollfabrikation und Seidenproduktion 
heimisch waren, konzentrierten sich Betriebe für die Produktion 
von Gardinen und Strümpfen in verschiedenen Regionen Mittel- und 
Ostdeutschlands. Dr. Arnold Lassotta, Textilfachmann im 
Ausstellungsteam: 'Die Versorgung der hiesigen Bevölkerung 
allein durch die heimische Textilindustrie wäre angesichts der 
alten Arbeitsteilung zwischen Ost und West nicht möglich 
gewesen.'

Hier lagen die Chancen für vertriebene Fachleute und 
Unternehmer. So wie Herbert Reichel, der 1948 mit 60 Lastwagen 
aus der Karl-May-Stadt Hohenstein-Ernstthal nach Rheinberg 
(Kreis Kleve) umsiedelte, um dort Teppiche und Gardinen zu 
produzieren. Oder Karl Rüger, ebenfalls aus Sachsen, der ab 1950 
in Sprockhövel (Ennepe-Ruhr-Kreis) rundgestrickte Strümpfe 
fertigte - zwei Beispiele aus der Ausstellung. 'Am Ende der 
Entwicklung gab es in Westdeutschland nahezu alle 
Produktionsarten, die vor dem Krieg über ganz Deutschland 
verteilt waren', so Lassotta.

Als neuen Standort für die Bekleidungsindustrie stellt die 
Ausstellung die Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen vor. Der damalige 
Sonderbeauftragte für den Wiederaufbau, Dr. Wendenburg, holte 
nach dem Krieg Unternehmen aus Breslau, Stettin und Lodz in die 
'Stadt der 1000 Feuer'. Das Ergebnis: Mit über 50 Firmen und 
rund 7.000 meist weiblichen Beschäftigten wurde die neue Branche 
Mitte der 50er Jahre zum fünften Standbein der Gelsenkirchener 
Industrie. Hier fand auch Marianne Jedamczik nach ihrer Rückkehr 
aus der Evakuierung in Bocholt eine berufliche Perspektive. Als 
17-Jährige begann sie als Hilfskraft im Zuschnitt bei der Firma 
Feilgenhauer, 'vormals Dresden'. Solche Hinweise auf den 
ursprünglichen Firmensitz in zeitgenössischen Anzeigen, Fotos 
und Produkte erinnern an die Aufbaujahre.

Spuren

Die zahlreichen Beispiele aus den Industriebranchen zeigen, dass 
Flüchtlinge und Vertriebene im Westen vielfältigere Spuren 
hinterlassen haben, als die Vertriebenentreffen heute vermuten 
lassen. Wer einen Audi fährt, Kaiser-Backformen in den Ofen 
schiebt, dem Kuchen einen echten Stonsdorfer folgen lässt und 
sich anschließend mit Odol den Mund spült, benutzt Produkte von 
Firmen, die ursprünglich im Osten angesiedelt waren und nach 
1945 in den Westen übersiedelten.

'Die Ausstellung holt Erinnerungen aus der Binnenwelt regionaler 
und lokaler Heimatstuben heraus und verknüpft sie mit der 
Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik', schrieb Schirmherrin Dr. 
Christina Weiss, 2005 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur 
und Medien, in ihrem Grußwort zum Katalog.


INFO

Aufbau West. 
Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder
15.6. - 21.9.2008

LWL-Industriemuseum
Ziegeleimuseum in Lage
Sprikernheide 77
32791 Lage
Tel.: 05232 9490-0
Fax: 05232 9490-38
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