[WestG] [LIT] Aka, Christine: Unfallkreuze. Trauerorte am Straßenrand
Alexander Schmidt
Alexander.Schmidt at lwl.org
Mo Apr 2 11:00:31 CEST 2007
Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 29.03.2007, 11:48
LITERATUR
Unfallkreuze sind neue Form der Trauer -
LWL-Buch fasst Forschung zusammen
Jeder Autofahrer hat sie schon einmal gesehen, mittlerweile sind
sie schon zu einer traurigen "Alltagsstraßenrand-Erscheinung"
geworden. So bezeichnet die Volkskundlerin Dr. Christine Aka die
Unfallkreuze an den Straßen, die an das Schicksal von Menschen
erinnern sollen, die hier zu Tode kamen und gleichzeitig die
Trauer der Angehörigen ausdrücken. Aka muss es wissen, sie hat
in einem vierjährigen Projekt 250 Unfallkreuze in ganz
Westfalen-Lippe erforscht. Das Ergebnis dieser Pionierarbeit
gibt die Volkskundliche Kommission für Westfalen beim
Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) jetzt als Buch unter
dem Titel "Unfallkreuze - Trauerorte am Straßenrand" (299 Seiten,
19,90 Euro) heraus.
Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 6000 Menschen im
Straßenverkehr, viele von ihnen sind jung. "Dieser Tod vor der
Zeit schockiert. Freunde, Nachbarn und oft auch Angehörige
versuchen an der Unfallstelle die Realität zu begreifen, denn
der Unfallort zeigt, dass das Unfassbare tatsächlich geschehen
ist. In den Tagen danach werden solche Orte des Todes dann zu
Orten der Trauer. Blumen, Spielzeug, Erinnerungsobjekte und
Briefe, dazu oft ein einfaches Holzkreuz, markieren die Stelle.
Solche Unfallkreuze sind nach dem Verkehrstod junger Menschen
fast selbstverständlich geworden", hat Aka beobachtet.
Bei zahlreichen Interviews mit Angehörigen und Freunden von
Verkehrsopfern hat Aka erfahren, dass die Unfallkreuze die
Ausdrucksform eines neu entstandenen Trauerrituals sind. Die
Unfallorte erzählen von den Toten, von ihren Freunden und Hobbys
und davon, wie die Zurückgebliebenen mit ihrer Trauer umgehen.
"Der Ort, an dem jemand gestorben ist, ist dabei nicht nur eine
Stätte des Totengedenkens, für viele Angehörige und Freunde wird
er zu einem Ort der Nähe und der emotionalen Verbindung zu dem
Verunglückten", so Aka.
Im Interview mit Aka beschreibt ein Freund eines Verunglückten
das so: "Ich weiß nicht, aber für mich ist der Körper nur so
eine Hülle, so was wie Hardware, die ist dann irgendwann kaputt,
aber das bin nicht ich, also meine Seele, oder wie ich das
nennen soll, oder meine Person. Was die mit meinem Körper machen,
das ist mir ganz egal. Ich will aber nicht auf so einem doofen
Friedhof sein, mit einem Stein, alles so ordentlich und alles so
tot. Da gehe ich nie hin, alle tun so würdig, so voll Pietät.
Das finde ich so überflüssig und unecht. Und er [der
Verunglückte] will bestimmt auch nicht dieses öde Verhalten, der
war so lebendig, so 100.000 Volt, und der will sicher, dass man
da an ihn denkt, wo Leben ist."
Das Gefühl, dem geliebten Menschen nah zu sein, sei für junge
Menschen an der Stelle des Trauerkreuzes am größten, da dies der
Ort sei, an dem die Verunglückten ihre letzten Augenblicke und
Emotionen erlebt hätten. Den Friedhof mieden jungen Menschen
weil er für sie für Verwesung und Vergänglichkeit stehe, während
er für die ältere Generation ein wichtiger Ort der Ruhe und
Erinnerung sei, so Aka.
Auf die Frage, warum die Angehörigen ein Kreuz an der
Unfallstelle aufstellten, antworteten alle gleich: Es solle ein
Mahnmal sein, lautete stets die Antwort. "Doch wenn man sich
intensiver mit den Menschen unterhält, bemerkt man, dass die
Kreuze vielmehr Zeichen für die Angehörigen selber sind, um
ihrer Trauer einen Ort zu geben", hat Aka in ihren Gesprächen
erfahren.
Die Unfallkreuze am Straßenrand haben auf den ersten Blick große
Ähnlichkeit mit Friedhofsgräbern. Doch auf den zweiten Blick
unterscheiden sie sich deutlich: Ihre Gestaltung unterliegt
keinen ästhetischen Einschränkungen. Jeder Trauernde bringt das
an die Unfallstelle, was seinem Gefühl und seinen Vorstellungen
nach einen Symbolwert für die Trauer besitzt und seine Beziehung
zu dem Toten ausdrückt. Neben Spielzeug und Briefen kann das
auch schon einmal ein Autorückspiegel sein. "So treten Freunde
und Angehörige mit den Toten in Kontakt, auch wenn sie nicht
mehr antworten. Sie kommunizieren mit vielen Mitteln wie zum
Beispiel per Brief oder indem sie aus dem Auto Lieblingslieder
abspielen oder nur gedachte Dialoge führen. Treffen an den
Unfallkreuze haben manchmal zeremoniellen Charakter, wenn
Freunde hier gemeinsam Gaben bringen, Zigaretten rauchen oder
Bier trinken", berichtet Aka von ihren Interviews.
Das alles macht nach Akas Ansicht deutlich, dass sich ein
gesellschaftliches Bedürfnis entwickelt hat, die Trauer
öffentlich zu machen und neue Formen von Trauer zu entwickeln.
"Die Briefe, Gaben und Geschenke sind Ausdruck dafür, dass
Angehörige und Freunde die Beziehungen zu dem Verunglücktem
fortsetzen wollen und sie an ein Weiterleben der Toten glauben.
Diese Jenseitsgläubigkeit bleibt jedoch unspezifisch und
individuell. Sie hat keine feste Struktur, ist nicht kirchlich
gebunden und von keiner bestimmten Lehre oder von festen Dogmen
geformt. Dabei entwickeln sich häufig aus verschiedenen
spirituellen Überzeugungen Patch-Work-Religionen", erklärt Aka.
INFO
Christine Aka:
Unfallkreuze. Trauerorte am Straßenrand.
(Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Band 109)
Verlag Waxmann, 2007, 299 Seiten, 45 schwarz-weiße und
76 farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8309-1790-8, 19,90 EUR.