[WestG] [LIT] Jaunsudrabins, Janis: Ich erzaehle meiner Frau von der Flucht aus Lettland und dem Exil in Deutschland

Alexander Schmidt Alexander.Schmidt at lwl.org
Di Dez 19 11:53:20 CET 2006


Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 13.12.2006, 11:52


LITERATUR

Flucht und Neuanfang in Westfalen: LWL gibt Erlebnisbericht des 
lettischen Exildichters Jaunsudrabin* heraus

In Westfalen war Janis Jaunsudrabin* ein unbekannter 
Flüchtling, einer von 200.000 Letten, die am Ende 
des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland kamen. Doch in seiner 
Heimat war er ein sehr bekannter Dichter. Unter dem Titel "Ich 
erzähle meiner Frau..." hat der Landschaftsverband 
Westfalen-Lippe (LWL) jetzt seinen Erlebnisbericht über die 
Flucht und Neuanfang herausgegeben. Das Buch beschreibt auch die 
schwierigen Anfangsjahre des Flüchtlingspaares in Bielefeld, 
Bünde (Kreis Herford), Bünde-Werfen, Greven, (Kreis Steinfurt) 
und Körbecke am Möhnesee (Kreis Soest).

Wie es zu dem Titel des Buches kam, berichtet Jaunsudrabin* in 
der Einleitung: " 'Erzähl doch etwas Lustiges', fleht mich meine 
Frau an, als wir in unserem Nest zusammensitzen und die Nähe des 
anderen suchen, unter ganz fremden Leuten. 'Ich möchte so gerne 
einmal von ganzem Herzen lachen.' 'Gut', entgegne ich, 'ich 
werde Dir erzählen, wie wir einst unser Zuhause verließen*' " 
Verständlich, dass Jaunsudrabin* Frau darauf antwortet: " 'Ich 
kann mich nicht entsinnen, auf unserer Fahrt etwas Lustiges 
erlebt zu haben'. 'Man kann weiß Gott nicht sagen, es sei 
unmöglich, mit etwas gutem Willen sogar unter ziemlich widrigen 
Umständen auf Heiteres zu stoßen.' " Da bleibt Nate nur noch der 
Kommentar: "Ich bin neugierig darauf zu erfahren, wie man aus 
einer Zwiebel Marmelade kochen kann."

"Wer nach dieser Ankündigung eine Humoreske erwartet, wird 
enttäuscht. Auch diese Flucht ist nichts zum Lachen. Doch im 
Rückblick und aus der Distanz kann für einen souveränen Geist 
wie Jaunsudrabin* auch noch im Schweren und Bitteren 
Situationskomik aufleuchten, und manche Widrigkeiten lassen sich 
nur mit Galgenhumor ertragen", so Prof. Dr. Ruth-E. Mohrmann, 
Vorsitzende der Volkskundlichen Kommission für Westfalen beim 
LWL.

Nach abenteuerlicher Flucht aus Lettland erreicht der bereits 
67-Jährige mit seiner Frau Bielefeld. Dort hoffen sie bei den 
Eltern ihres Schwiegersohns Unterschlupf zu finden. Doch die 
lang ersehnte Ankunft wird zu einem Alptraum: Nur einen Tag 
zuvor war die Stadt von einen verheerenden Bombenangriff 
heimgesucht worden, ganze Viertel waren nur noch eine rauchende 
Trümmerlandschaft. Auch die Wohnung der Verwandten. Und so 
beginnt die Suche nach einer dauerhaften Bleibe - eine Odyssee, 
die Jaunsudrabin* und seine Frau von Bielefeld nach Bünde, 
Werfen, Greven und schließlich nach Körbecke am Möhnesee führt.

Millionen Menschen sind damals aus dem Osten geflohen, meist 
Deutsche, aber auch über 200.000 Letten. "Sehr viele von ihnen 
haben Schrecklicheres erlebt und eine schlimmere Flüchtlingszeit 
gehabt als das Ehepaar Jaunsudrabin*, aber die wenigsten von 
ihnen haben das Erlebte so eindrücklich zu schildern gewusst wie 
Jaunsudrabin*. Er ist ein engagierter und gleichzeitig auch 
distanzierter Beobachter. Dass er als Meisterschüler bei Lovis 
Corinth auch ein hochtalentierte Maler war, verrät sich in der 
sehr präzisen und farbigen Art, die Dinge zu sehen und 
darzustellen", sagte Dr. Wolfhard Raub, der das Projekt angeregt 
hat.

Das Besondere sei die Perspektive des Ausländers, der dem 
einzelnen Deutschen ohne Vorbehalte begegnet, so Raub weiter: 
"Wir sehen das ganze Panorama menschlicher Schwächen und 
Tugenden: Habgier und Selbstsucht ebenso wie generöse 
Freigiebigkeit und selbstlose Hilfsbereitschaft, Opportunismus 
und Duckmäusertum ebenso wie Mut und Zivilcourage, bürokratische 
Schikanen und unkonventionelle Amtshilfe."

Als das Buch 1951 auf lettisch erschien, mag es manche geschockt 
haben. Denn Jaunsudrabin* hat die Handlungen sehr direkt 
geschildert und auch die zu der Zeit noch lebenden Personen fast 
alle beim Namen genannt. Doch inzwischen liegen die 
geschilderten Ereignisse solange zurück, dass auch persönliche 
und kritische Bemerkungen keinen mehr verletzen können. "Da das 
Werk über die letzten Kriegsmonate in Bielefeld und Bünde, über 
die Wirren dort vor und unmittelbar nach Beginn der britischen 
Besetzung und die ersten Nachkriegsjahre in Bünde, Werfen, 
Greven und Körbecke berichtet, ist es auch für die Geschichte 
Westfalens in jenen Jahren sehr wichtig", betont Mohrmann die 
Bedeutung des Buches für die Region.

Seine zahlreichen Kontakte und seine unermüdliche Korrespondenz 
sorgten dafür, dass Jaunsudrabin* für Exil-Letten in aller Welt 
zum Inbegriff des freien unzerstörbaren Lettlands wurde. 
Zahlreiche Ehrungen, darunter die des Internationalen PEN-Clubs 
in Stockholm für sein Lebenswerk, spiegeln die Wertschätzung 
wieder, die ihm entgegengebracht wurde. Und auch in Deutschland 
nahm man mehr und mehr zur Kenntnis, dass dieser weißhaarige 
freundliche, aber wortkarge Mann der größten Dichter Lettlands 
im Exil war.

Nach seinem Tod im Jahre 1962 wurde Jaunsudrabin* in Soest 
beigesetzt. Er und seine Frau hatten verfügt, dass sie erst dann 
in lettischer Erde umgebettet werden wollten, wenn ihre Heimat 
wieder frei sei. 1997 fand die Überführung statt. Im Dom zu Riga 
wurde am 13. September in Anwesenheit des lettischen 
Staatspräsidenten ein feierliches Totenamt vom 
evangelisch-lutherischen Erzbischof zelebriert.


INFO

Janis Jaunsudrabin*: Ich erzähle meiner Frau von der Flucht aus 
Lettland und dem Exil in Deutschland. Rückblick. 
Autobiographische Materialien. Hg. von der Volkskundlichen 
Kommission für Westfalen, Band 5, Münster, Verlag Waxmann 2006, 
227 S., ISBN 978-3-8309-1748-9, 19,90 €.