[WestG] [LIT] Baumeier, Stefan / Stiewe, Heinrich (Hg.): Die vergessenen Nachbarn

Alexander Schmidt Alexander.Schmidt at lwl.org
Mo Dez 11 11:33:21 CET 2006


Von: "LWL-Pressestelle" <presse at lwl.org>
Datum: 07.12.2006, 18:31


LITERATUR

"Die vergessenen Nachbarn": LWL- Freilichtmuseum Detmold gibt 
Buch über Juden auf dem Land heraus

"Die vergessenen Nachbarn. Juden auf dem Lande in 
Ostwestfalen-Lippe" war der Titel eines mehrjährigen 
Forschungsprojektes, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe 
(LWL) an seinem Westfälischen Freilichtmuseum Detmold 
durchgeführt hat. Die Ergebnisse hat der LWL am Donnerstag 
(07.12.) als Buch der Öffentlichkeit vorgestellt.

Bereits seit 1992 hat sich das LWL-Museum darum bemüht, ein 
Gebäude wieder aufzubauen, welches das Leben der zahlenmäßig 
recht kleinen, jüdischen Minderheit in Westfalen dokumentieren 
sollte. Ende der 1990er Jahre, bot sich dem Museum mit dem 
Wohnhaus der jüdischen Familie Uhlmann in Höxter-Ovenhausen die 
einmalige Gelegenheit, eines der letzten - fast unversehrt 
erhaltenen - dörflichen Wohn- und Geschäftshäuser aus früherem 
jüdischen Besitz zu übernehmen. Anhand dieses Hauses will der 
LWL Aspekte des Lebens ländlicher Juden in Westfalen vermitteln. 
Die Eröffnung des Hauses im Museum ist für den Herbst 2007 
vorgesehen.

Eine Möglichkeit zur näheren Beschäftigung mit dem Thema bietet 
schon jetzt der von Prof. Dr. Stefan Baumeier, ehemaliger Leiter 
des LWL-Museums und Projektleiter Dr. Heinrich Stiewe 
herausgegebene Sammelband, der nicht nur das im Museum 
wiederaufgebaute Haus aus Ovenhausen und seine Geschichte 
ausführlich beschreibt, sondern auch vielfältige 
Forschungsergebnisse zur Kultur- und Alltagsgeschichte der 
jüdischen Bevölkerung in den ländlichen Regionen Ostwestfalens 
dokumentiert.

Unter den vier Hauptkapiteln "Das Haus und seine Bewohner: Auf 
den Spuren der Juden in Ovenhausen", "Ovenhausen und Annette von 
Droste-Hülshoff: 'Die Judenbuche'", "Juden in Dörfern und 
Kleinstädten im östlichen Westfalen" und "Das Ende der 
Nachbarschaft: Verfolgung und Vernichtung der Juden auf dem 
Lande" bietet der Band einen facettenreichen Überblick zur 
Geschichte und Kultur der ländlichen Juden im Paderborner und 
Corveyer Land, in Lippe und Minden-Ravensberg.

Ausgangspunkt der Forschungen ist das Schicksal des Ovenhausener 
Hauses und seiner Bewohner: Ursprünglich 1803 bis1805 von dem 
jüdischen Händler Bernd Soistmann (ab 1808 Steilberg) erbaut, 
hat das Haus eine ununterbrochene jüdische Besitzertradition, 
die bis zur Deportation seiner letzten Bewohner, der Familie 
Uhlmann, im Jahre 1941 nachweisbar ist. Heinrich Stiewe 
erläutert in seinem Beitrag die Geschichte des Gebäudes von der 
Erbauung bis zur Translozierung in das LWL-Museum im Jahre 
2000/01. Elmar Altwasser liefert einen archäologischen Beitrag 
zu den aufschlussreichen Spuren der Geschichte des Hauses "unter 
dem Boden".

Menschen jüdischen Glaubens lebten seit Jahrhunderten in 
westfälischen Kleinstädten und Dörfern. "Als kleine religiöse 
Minderheit, aber mit wichtigen Funktionen im ländlichen 
Wirtschaftsleben hatten sie Teil an einer vielfältigen, 
traditionsgebundenen ländlichen Kultur. Sie waren eingebunden in 
eine traditionelle Dorfgemeinschaft, die auf ihre Tätigkeiten im 
Waren-, Vieh- und Getreidehandel, aber auch als Kreditgeber 
angewiesen war. Ein keineswegs konfliktfreies, aber dennoch 
nachbarschaftliches Verhältnis zwischen Christen und Juden hatte 
sich etabliert. Dies ist heute schon fast vergessen", so Stiewe.

Gudrun Mitschke-Buchholz hat in ausführlichen Tonbandinterviews 
18 ältere Ovenhausener Bürger zu ihren Erinnerungen an die 
jüdischen Nachbarn vor mehr als 65 Jahren befragt und 
vielfältige Informationen zum nachbarschaftlichen Zusammenleben 
zwischen Christen und Juden in einem katholischen Dorf, aber 
auch zur Diffamierung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen 
Nachbarn zusammengetragen.

Regionale Überblicke zu Paderborn/Corvey, Lippe und 
Minden-Ravensberg sowie vertiefende Ortsstudien zu Schötmar, 
Petershagen und Rahden oder Bielefeld-Schildesche verdeutlichen 
die Situation der ländlichen Juden im 19. und beginnenden 20. 
Jahrhundert und stellen die Ovenhausener Ergebnisse in einen 
größeren regionalen Kontext. Mit Dina van Faassen, Diethard 
Aschoff, Margit Naarmann, Monika Minninger, Kai-Uwe von Hollen 
und Bernd-Wilhelm Linnemeier wurden Autorinnen und Autoren für 
das Projekt gewonnen, die sich bereits als ausgewiesene Kenner 
der jüdischen Regionalgeschichte einen Namen gemacht haben.

Die gewaltsame Zerstörung der Nachbarschaft in der Zeit des 
Nationalsozialismus beschreiben Margit Naarmann und Jürgen 
Scheffler eindringlich in zwei abschließenden Beiträgen für die 
Teilregionen Hochstift Paderborn und Lippe.

"Mit Blick auf den pädagogischen Auftrag des 
LWL-Freilichtmuseums Detmold lässt sich die Geschichte des 
Hauses Uhlmann aus Ovenhausen geradezu als einzigartige Chance 
bezeichnen, die Erinnerung an die jüdische Geschichte des 
ländlichen Westfalen wach zu halten", sagte Museumsleiter Dr. 
Jan Carstensen als Reihenherausgeber bei der Buchvorstellung.

Das Ovenhausener Haus und das Schicksal seiner Bewohner stehen 
dabei beispielhaft für die Geschichte der Juden "auf dem Dorf" 
im östlichen Westfalen. Dabei spannt sich der Zeitrahmen von den 
historischen Hintergründen der bekannten Novelle "Die 
Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff, die weit in das 18. 
Jahrhundert zurückreichen, über fast zwei Jahrhunderte 
christlich-jüdischer Nachbarschaft bis zu deren gewaltsamem Ende 
in der Zeit des Nationalsozialismus.


INFO

Stefan Baumeier / Heinrich Stiewe (Hg.): Die vergessenen 
Nachbarn. Juden auf dem Lande im östlichen Westfalen (Schriften 
des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold - Landesmuseum für 
Volkskunde 24).