[WestG] [LIT] Theiling, Murken: Pfarrer Martin Waltemath. Aus Morgen und Abend wird ein neuer Tag! 1943-1953 in russischer Kriegsgefangenschaft
Pawlitta, Pascal
Pascal.Pawlitta at lwl.org
Do Sep 25 09:18:38 CEST 2014
Von: "Jens Murken" <murken at web.de>
Datum: 23.09.2014, 11:16
LITERATUR
Am 26. September 1953 kehrte der westfälische Pfarrer Martin Waltemath (1907-1960) im Alter von 46 Jahren aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück. Seine Erlebnisse als Divisionspfarrer der 6. Armee im Kessel von Stalingrad, seine Gefangennahme und die fast elfjährige Gefangenschaft in verschiedenen russischen Lagern und Gefängnissen hat er im Frühjahr 1954, ein halbes Jahr nach seiner Heimkehr, aufgeschrieben.
In der Kriegsgefangenschaft war es untersagt, schriftliche Aufzeichnungen zu machen oder gar Tagebuch zu führen. Der Bericht Waltemaths ist daher in der Rückschau entstanden, zwar nicht einmal ein Jahr nach seiner Rückkehr, aber eben doch nach Monaten in der alten Heimat, in der er neue Erfahrungen gemacht hat und neue Eindrücke zu verarbeiten hatte. Dies wird in dem Bericht thematisiert. Dennoch hat Pfarrer Waltemath seine Erinnerungen chronologisch niedergeschrieben - die Leser können ihm auf seinem langen Weg in die und durch die Kriegsgefangenschaft folgen, sie wissen lediglich, dass er überleben wird. Aber Waltemath verzichtet bewusst auf die Rolle eines allwissenden Erzählers, sondern er versucht, authentisch Bericht zu erstatten. Der Leser fühlt, bangt und leidet daher mit; der Leser ist zugleich irritiert und abgestoßen von den subjektiven Einschätzungen und pauschalen Urteilen, die Waltemath immer wieder über "den lügnerischen Russen" oder über "den geldgierigen Juden" vornimmt.
Differenzierungen über Menschengruppen und Reflektionen über das Erlebte sind selten. Das Geschichtsbild von Martin Waltemath, seine militärische Sozialisation und die politische Indoktrination durch den Nationalsozialismus brechen nur allmählich auf, wenn in seinen Schilderungen die Individuen hinter dem System des russischen Lagers gesehen und geschätzt werden. Mitgefühl für die Opfer des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, für die Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeit in Deutschland erwarten wir in Waltemaths Bericht vergebens, können es nicht erwarten. Denn er berichtet nicht als Historiker, objektiv und Ursache und Wirkung vergleichend über den Zweiten Weltkrieg, sondern als Betroffener, als ohnmächtiges Opfer und Augenzeuge ganz persönlicher Erfahrungen und immer wieder erlittener existentieller Bedrohungen, die über Jahre hinweg lediglich das eigene Überleben zum Inhalt und Zweck des Denkens und Handelns gemacht haben.
Martin Waltemath hat aus der Erinnerung heraus eine ausführliche Darstellung mit vielen Details verfasst. Einer seiner ehemaligen Kameraden, der den Gefangenschaftsbericht gelesen hat, war nach der Lektüre nicht überrascht: "Der Bericht unseres lieben Martin hat viel, viel in mir wieder lebendig werden lassen. Es bleibt doch ein Wunder, dass wir überhaupt aus diesem Grauen wieder herausgekommen sind! . Ich habe gestaunt, mit welcher Genauigkeit Martin alles niedergeschrieben hat. Was hatte er für ein gutes Gedächtnis! Wie oft habe ich ihm das gesagt und ihn darob bewundert!"
Durch die Familien Waltemath und Theiling ist dieser Bericht Martin Waltemaths, der vor seinem frühen Tod 1960 noch einige Jahre als Pfarrer in Eilshausen amtieren konnte, an das Landeskirchliche Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld gelangt.
Das Buch bettet den Gefangenschaftsbericht von Martin Waltemath in dessen Lebens- und Berufsweg ein. In den Jahren 2012 und 2013 von Cornelia Bischof geschaffene Bilder ergänzen, illustrieren und kommentieren den Bericht und Leidensweg von Martin Waltemath.
INFO
Friedhelm Theiling / Jens Murken (Hg.):
Pfarrer Martin Waltemath
Aus Morgen und Abend wird ein neuer Tag! 1943-1953 in russischer Kriegsgefangenschaft
(Schriften des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche von Westfalen, Band 20),
Luther-Verlag, Bielefeld 2014
360 Seiten, Paperback
ISBN 978-3-7858-0636-4
Kontakt:
Dr. Jens Murken
Landeskirchliches Archiv Bielefeld
Bethelplatz 2
33617 Bielefeld
Tel.: 0521/594296
E-Mail: jens.murken at lka.ekvw.de
URL: www.archiv-ekvw.de
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