[WestG] [KONF] Tagungsbericht, Adelige über sich selbst, 6.-7.6.2013

Marcus Weidner Marcus.Weidner at lwl.org
Fr Jul 26 10:34:40 CEST 2013


Von: "Gunnar Teske" <gunnar.teske at lwl.org>
Datum: 26.07.2013, 08:42


KONFERENZ

Tagungsbericht

Adelige über sich selbst. Selbstzeugnisse in nordwestdeutschen 
und niederländischen Adelsarchiven

3. deutsch-niederländisches Symposium zur Adelsgeschichte
6. - 7. Juni 2013, Münster

Am Donnerstag, dem 6. Juni, und am Freitag , dem 7. Juni 2013, führte der Deutsch-niederländische Arbeitskreis für Adelsgeschichte, eine Gruppe von Archivaren und Historikern aus Nordwestdeutschland und den Niederlanden, die sich mit Adelsgeschichte befassen, sein drittes Symposium durch, das einer besonderen Quellengruppe, den Selbstzeugnissen, gewidmet war. Darunter wurden Texte verstanden, in denen nach einer Definition von Rudolf Dekker "de auteur spreekt over eigen handelen en gevoelens of over zaken die hem perzoonlijk bezighouden" (1988) und deren wichtigstes Kriterium nach Benigna von Krusenstjern die "Selbstthematisierung" des Autors ist (1994). Ort der Veranstaltung war der barocke Festsaal des Erbdrostenhofes in Münster.

Eröffnet wurde das Symposium, zu dem insgesamt 65 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen, durch Frau Dr. Barbara Rüschoff-Thale, Kulturdezernentin des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), und Herzog Rudolph von Croÿ, den Vorsitzenden der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V., die zusammen mit der Werkgroep Adelsgeschiedenis und dem LWL-Archivamt für Westfalen die Tagung organisiert hatten. Umrahmt wurde die Eröffnung durch ein Gamben-Ensemble unter der Leitung von Hermann Hickethier mit Stücken von John Jenkins (1592 - 1678) und Alfonso Ferrabosco (1575 - 1628). Im Anschluss gab Dr. Gunnar Teske, Archivar am LWL-Archivamt für Westfalen, einen kurzen Überblick über das Symposium, das sich in vier Sektionen gliederte: Nach einer Einführung in die Bedeutung von adeligen Selbstzeugnissen sollten zunächst Selbstzeugnisse über Haus und Familie vorgestellt werden, denen in der dritten Sektion Selbstzeugnisse auf Reisen und im Feld gegenübergestellt werden sollten; die letzte Sektion war schließlich für Selbstzeugnisse weiblicher Autoren in 19. Und 20. Jahrhundert vorgesehen.

Die erste Arbeitssitzung wurde moderiert durch Drs. Ben Olde Meierink, Mitbegründer des "Bureau voor Bouwhistorie en Architectuurgeschiedenis" in Utrecht, und Dr. Gunnar Teske. Den Eröffnungsvortrag hielt Dr. Rudolf Dekker, Leiter einer Forschungsgruppe über Selbstzeugnisse am Huizinga Institute, Research School for Cultural History (Amsterdam), und des Center for the Study of Egodocuments and History und damit der beste Kenner der Materie in den Niederlanden. Er stellte die provokante Frage, ob es überhaupt adelige Selbstzeugnisse gebe. Die Ursprünge dieser Gattung lägen nach Jacob Burckhardt in der Renaissance. Die Emanzipation des Bürgertums habe zu einer Zunahme der Selbstbetrachtung geführt, die ihren Niederschlag in Tagebüchern und Autobiographien gefunden habe. Obwohl der historische Kanon berühmter Autoren von Selbstzeugnissen vor allem Personen mit bürgerlichem Hintergrund umfasse, müsse, wie schon das Tagungsprogramm zeige, die skizzierte einseitige Sichtweise erweitert werden, zumal wenn man Randerscheinungen von Selbstzeugnissen wie Eintragungen in Kalendern oder Necrologen berücksichtige. Auch wenn der niederländsiche Adel nicht zu den Trendsettern der Gattung gezählt habe, ist von den drei ältesten bisher bekannten Selbstzeugnissen in den Niederlanden immerhin eines, das "cleijne tractaetken", das der friesische Adelige Jancko Douwama, ein Gegner Karls V., 1528 im Gefängnis zu seiner Verteidigung niederschrieb, von einem Adeligen verfasst worden; insgesamt wurden von den bisher insgesamt 630 bekannten Selbstzeugnissen in den Niederlanden (cf. www.egodocument.net) nicht weniger als 50 von der zahlenmäßig kleinen Gruppe verfasst worden, die einen gewissen Anspruch auf Nobilität erhoben hätten. Sie zeichneten sich vor allem durch eine enge Bindung an die Familie aus und seien deshalb oft weniger Ausdruck von Individualität als von Familienidentität.

Die Diskussion betonte zum einen den hohen Anteil von adeligen Selbstzeugnissen innerhalb der gesamten Gattung in der Niederlanden und man vermutete, dass der Anteil in Deutschland und Frankreich, wo der Adel eine größere Rolle gespielt habe, noch höher liegen werde. Als Adressaten adeliger Selbstzeugnisse wurden vor allem die Verfasser selbst und ihre Familien ausgemacht; deshalb seien die Aufzeichnungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch selten zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht worden. Der Auftrag zu einer Typisierung adeliger Selbstzeugnisse, z.B. als Verteidigungsschriften oder Rechenschaftsberichte, sollte als eine der Aufgaben über dem gesamten Symposium stehen.

Drs. Maarten van Driel, bis 2013 Archivar am Gelders Archief in Arnheim und dort zuständig für die Haus- und Familienarchive, fragte in seinem Beitrag vor allem nach der Bedeutung von Selbstzeugnissen für das Selbstverständnis von Adeligen. Schon die Frage, ob es überhaupt ein kollektives Selbstverständnis des Adels gebe, wie von den Adelsverbänden behauptet, müsse nach Heike Düselder für den Adel insgesamt verneint werden. Am ehesten gelte es innerhalb bestimmter Zeiträumen für bestimmte Untergruppen wie stiftsfähigen Adel, Verbände, Orden, Landstände u.Ä., und es verstärke sich unter dem Eindruck einer faktischen Marginalisierung. Das Selbstverständnis sei abhängig von der Umgebung, der Rolle, der aktuellen Situation und Gruppenzugehörigkeit und könne sich im Laufe eines Lebens auch wandeln. Prägend wirke vor allem die Erziehung, aber auch die Auseinandersetzung mit fremden Gruppen. An Quellen nannte van Driel neben den Selbstzeugnissen im oben genannten Sinne auch Zeugnisse des Personals und des Bürgertums über den Adel, normative Quellen zum standesgemäßen Verhalten, aber im weiteren Sinne auch alle Quellen zu bewussten und unbewussten Lebensäußerungen wie Erziehung, Heirat, Alltagsleben, Rechten, sozialen Kontrollen u.a.m. Hinzu kämen Realien wie Haus und Inventar. Für das Selbstverständnis des heutigen Adels böten sich zusätzlich Interviews an. Abschließend bedauerte van Driel, dass beim Symposium kein Angehöriger des Adels als Referent über das Selbstverständnis seines Standes referiere. Auf die Frage, wo sich die von ihm genannten Quellen befänden, berichtete der Referent, dass die Adelsarchive in Gelderland, soweit sie noch erhalten seien, in den staatlichen Archiven gerettet worden seien.

Die Sektion zu Selbstzeugnissen über Haus und Familie, moderiert von Drs. Ben Olde Meierink und Dr. Birgit Kehne, Leiterin des Landesarchiv Niedersachsen, Staatsarchiv Osnabrück, wurde eröffnet durch Dr. Bastian Gillner, Referent am Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, der seine Dissertation über "Freie Herren - Freie Religion. Der Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung 1500-1700" geschrieben hat. Er stellte einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der individuellen Alltagspraxis und den traditionellen und rechtlichen Ansprüchen der freien Religionsausübung fest. Auch wenn Adelige konfessionell handelten, fänden sich in Tagebüchern und Autobiographien zwar religiöse, aber selten konfessionelle Äußerungen, und selbst in solchen Fällen werde kein Absolutheitsanspruch erhoben. In Korrespondenzen werde dagegen rechtlich argumentiert. Die Gründe dafür sah Gillner zu einen darin, dass Konfessionsfragen die adeligen Lebenswelten gefährdet hätten, ohne eine angemessen Identifikationsmöglichkeit zu bieten, und zum anderen darin, dass ständische Selbstwahrnehmung sich stärker über Religion als über Konfession definiert habe.

In der Diskussion wurde bestätigt, dass z.B. in Kleve-Mark das Überleben des Adels Vorrang vor der Konfession gehabt habe. Und auch bei Rechtsstreitigkeiten, die von Juristen bestimmt worden seien, habe die Konfession eine untergeordnete Rolle gespielt. Konversionen seien mehr unter der Hand vollzogen worden und selbst Johann von der Recke zu Steinfurt berufe sich seiner Rechtfertigung auf standardisierte Argumente und nicht auf persönliche Überzeugungen. An weiteren Quellen zur konfessionellen Haltung wurden Testamente und Eheberedungen genannt, persönliche Tagebücher seien dagegen bis ins 18. Jahrhundert sehr selten. Die tatsächliche persönliche Überzeugung sei eher aus persönlichen Briefen abzulesen.

Redmer Alma, Archivar am Drents Archief in Assen und Vorsitzender der Stichting Werkgroep Adelsgeschiedenis, stellte das "Linagieboeck" des friesischen, katholischen Adeligen Rinnert van Solckema vor, der auch eine "Conscriptio exulum Frisiae" und eine "Conscriptio nobilium Groningae" verfasst hat. Von dem Linagieboek aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts blieb nur der 2. Teil erhalten. Solckema beschreibe darin die nur zum Teil adeligen Genealogien seiner eigenen Familie und der Familie seiner zweiten Frau aus der Stadt Groningen. Darüber hinaus gebe das Linagieboek Einblick in den damaligen Streit um Gottesdienst und Politik. Ausführlich sei auch Solckemas eigene Stellung als katholischer Exilant und die Position anderer Familienmitglieder, zu denen auch Protestanten gehörten, geschildert. Insofern sei das Buch eine wichtige Quelle für das Konzept des friesischen Adels in der Frühen Neuzeit.

Bei der Diskussion wurde zwar festgestellt, dass es konkrete Merkmale für die Selbstdefinition des friesischen Adels gegeben habe, die konkreten Kriterien blieben aber offen. Anders als es Gillner für Westfalen beobachtet hatte, hatte nach Almas Beobachtung bei dem Friesen Solckema die Konfession Vorrang vor der Zugehörigkeit zum Adelsstand, zumal das Adelskonzept in Friesland fließend gewesen sei. Die Anzahl der friesischen Adeligen schätzte er auf 100 bis 200 Personen.

Zum Abschluss der Sektion stellt Dr. Stephanie Haberer, Referentin am Landesarchiv Niedersachen, Staatsarchiv Osnabrück, das Projekt zur Edition der 21 Schreibkalender in Quartformat von Clamor Eberhard von dem Bussche zu Hünnefeld (1611-1666) im Osnabrücker Land vor. Nachdem dieser in den Jahren 1626 bis 1631 zunächst nur sporadisch kurze Notizen eingetragen habe, seien dann die Eintragungen ausführlicher und regelmäßig erfolgt. In den Jahren 1641 bis 1665 seien sie z.T. so lang, dass zusätzlich Blätter eingefügt worden seien. Das Themenspektrum umfasse Familie, Personen, Wirtschaft, Reisen, Netzwerke und politische Ereignisse. Die Edition des Textes solle um weiter Quellen wie das Testament ergänzt werden. Zwei Söhne und ein Enkel und ein Urenkel hätten ebenfalls Notizen in Schreibkalendern hinterlassen, die aber im Oktavformat weniger Platz für Eintragungen geboten hätten.

Mit den Eintragungen in Schreibkalender, so wurde in der Diskussion hervorgehoben, sei ein neuer Typ von Egodokumenten vorgestellt worden, der aber wegen seiner Kürze der Kommentierung und Ergänzung um weitere Quellen bedürfe. Außer dem schon genannten Testament sei bei der Edition an die Eheberedung und die Leichenpredigt gedacht. Hervorgehoben wurde auch das große Themenspektrum; dagegen fand ein so wichtiges Ereignis wie die "Capitulatio perpetua", die nach dem Westfälischen Frieden für das Fürstbistum einen ständigen Wechsel zwischen einem katholischen und einem evangelischen Fürstbischof vorsah, keine Erwähnung.

Zum Abschluss stellte Dr. Gerd Dethlefs, Referent für Landesgeschichte am LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster, Westfälisches Landesmuseum, den Tagungsraum, den Festsaal des Erbdrostenhofes, als Saal mit maximaler Öffentlichkeit zur Eigeninszenierung vor. An den beiden Stirnseiten zeigten Porträts den damaligen Kaiser Franz Stephan und den Landesherrn Kurfürst Clemens August. Die übrige Wandgestaltung sei den traditionellen Normen des 18. Jahrhunderts gewidmet: im Erdgeschoss Musikinstrumente und in den vier Ecken das Parisurteil, im Obergeschoss mit seiner Galerie unter dem Familienwappen des Erbauers die Personifizierungen von Krieg, Überfluss und Frieden sowie unter dem Wappen seiner Ehefrau die Personifizierungen von Hoffnung, Caritas und Glauben. Die Decke werde von Jupiter und den antiken Göttern beherrscht. Damit sei der Saal ein Zeugnis für die Selbstverortung des Adels im 18. Jahrhundert.

In einem öffentlichen Abendvortrag stellte Frau Wendy Landewé, Konservatorin am Museum Haus Doorn und früher auf Haus Amerongen und bei der niederländischen Kastelenstichting tätig, Sigurd von Ilsemann, Flügeladjutant Kaiser Wilhelms II., und seine Tagebücher vor. Ilsemann, Jahrgang 1884, sei 1918 zunächst im Hauptquartier tätig gewesen und dann zum Flügeladjutanten des Kaisers ernannt worden. Um eine Dokumentation der Ereignisse und Verhältnisse um die Person des Monarchen zu schaffen, habe er damals seine Tagebücher begonnen. Aus Treue zum Kaiser sei er diesem unter Verzicht auf eine Militärkarriere ins niederländische Exil zunächst auf Haus Amerongen, dann auf Haus Doorn gefolgt. 1920 habe Ilsemann die Tochter von Bentinck geheiratet. Obwohl ein Ereignis von gesellschaftlichem Rang, habe es keinen Niederschlag im Tagebuch gefunden, das sich ganz auf den Kaiser und seine Umgebung konzentriere: Ereignisse, Gespräche, Streitigkeiten mit Wilhelms zweiter Frau Hermine, Vermittlungen zwischen dem Kaiser und seinen Söhnen und natürlich das regelmäßige Fällen und Zersägen von Bäumen. Mit der Versetzung Ilsemanns als Militärattaché nach Den Haag 1939 ende das Tagebuch, das der Verfasser vor den deutschen Truppen eingemauert habe. Nach dem Tod des Kaisers habe Ilsemann als Museumsverwalter auf Haus Doorn gearbeitet und auch die Umwandlung in eine Stichting vorgeschlagen. 1952 habe er sich, an Krebs erkrankt, erschossen und sei in Amerongen beigesetzt worden. 

Die Tagebücher seien als Quelle über das Leben auf Haus Doorn verfasst worden. Ilsemann habe die Werte eines adeligen Offiziers, Treue, Ehre, Mut und Selbstbeherrschung, verinnerlicht und sich über den Tod des Kaisers hinaus stets als Verbindungsoffizier zwischen Wilhelm II. und der Außenwelt verstanden. Sein Sohn Siegfried habe ebenfalls ein Tagebuch geschrieben, das jetzt erschienen sei.

Der zweite Tag des Symposiums begann mit adeligen Selbstzeugnissen auf Reisen und im Feld, moderiert durch Herrn Johann Seekles, Archivar am Historisch Centrum Overijssel in Zwolle, und Dr. Axel Koppetsch, Archivar am Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen in Münster. Dr. Gerd Dethlefs, der am Vorabend bereits den Festsaal erläutert hatte, stellte die Tagebücher von Franz Anton von Landsberg (1656-1727) vor, die dieser auf Reisen geführt hatte und die heute z.T. im Familienarchiv in Drensteinfurt und z.T. in der Staatsbibliothek in Berlin verwahrt werden. Die ersten Tagebücher stammen von der Kavalierstour nach England, Frankreich und Italien. Sie legten dem Vater Rechenschaft ab über das Gesehene und Erlernte, aber auch über die persönlichen Kontakte, und sie seien insofern Zeugnisse des sozialen Aufstiegs der Familie. Während seiner Laufbahn als Offizier in münsterschen Diensten, die ihn nach Ungarn, an den Niederrhein und nach Brabant führten, habe er in Journalen das ihm wichtig Erscheinende festgehalten: Kontakte zu Offizieren, Vorgesetzten und anderen wichtigen Personen, militärische Ereignisse, Besichtigungen von Städten. Dadurch habe er ein Netzwerk im Dienst seiner Familie und des Landesherrn dokumentiert. Im Jahr 1704 habe er, als er nicht zur Armee berufen worden sei, weil sein Regiment in Seeland in Garnison gelegen habe, eine Reise durch die Niederlande unternommen, auf der er die Häuser Slangenburg und Dieren besucht und Einkäufe in Amsterdam getätigt habe, sodass sich im Bau von Haus Wocklum und des Landsberger Hofs in Münster ländische Einflüsse zeigen. Nach seinem Tod habe die Witwe 1731 die Tagebücher, die das Reisen als Kavalier, Militär und Tourist dokumentierten, als Monumente der Familiengeschichte einbinden lassen.

Es wurde kontrovers diskutiert, inwiefern die persönlichen Kontakte wirklich zu einem Netzwerk geführt hätten oder ob sich die Adeligen nicht eher als Teil einer Netzwerkkultur gesehen hätten, in der der gute Name der Familie wichtiger gewesen sei als die Frage, ob sich konkrete Kontakte später reaktivieren ließen. Seine sparsame Rechnungsführung wirke bürgerlich, konfrontiere man sie mit Norbert Elias' Beobachtung einer adeligen Kultur der Verschwendung, die zu zahlreichen Konkursen geführt habe.
Das Thema der Kavalierstour wurde von Elisabeth Schläwe M.A., Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Frühe Neuzeit an der Universität Köln, am Beispiel der Familie Wolff-Metternich zur Gracht im 17. und 18. Jahrhundert weiter vertieft. Drei Mitglieder hätten einen wesentlichen Teil ihrer Kavalierstour in den Niederlanden verbracht: Johann Adolf (1592-1669) habe einen Schreibkalender geführt, die Reise von Franz Josef (1710-1741) sei durch den Schreibkalender der Mutter und die Rechnungen belegt, und Johann Ignatz (1740-1790) habe ein Reisejournal verfasst. Gründe für den Aufenthalt in den Niederlanden seien zum einen Kostenersparnisse bei der Kavalierstour gewesen, die ca. ein Drittel des Familienbesitzes verschlungen habe, zum anderen sei es aber auch der der gute Ruf der niederländischen Universitäten gewesen, durch den man sich Vorteile für eine spätere Karriere am Hof erhofft habe.

Diskutiert wurden vor allem die verschiedenen Formen der Kontakte und Beziehungen, durch welche der Kavalier sein Netzwerk ausbauen konnte. Hauptsächlich seien Kontakte zu Adeligen geknüpft worden, bei denen der junge Kavalier zum Essen eingeladen wurde oder mit denen er Ausflüge in die Umgebung des Studienortes unternahm. Zu den dabei geäußerten liberalen Ansichten fänden sich in den Aufzeichnungen durchaus auch kritische Kommentare. Außerdem pflegte man auch private Kontakte zu deutschen Professoren. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob es einen Unterschied zwischen den Kavalierstouren katholischer und evangelischer Adeliger gegeben habe. Im Zusammenhang damit, dass die katholischen Kavaliere auch in den kalvinistischen Niederlanden ihren Glauben praktizieren konnten, wurde darauf hingewiesen, dass gerade für Domherrn ein Studienjahr im Ausland vorgeschrieben gewesen sei.

Ein Selbstzeugnis eines adeligen Militärs stand im Mittelpunkt des Beitrags von Jacques van Rensch, Reichsarchivar in der Provinz Limburg beim Regionaal Historisch Centrum Limburg: die Aufzeichnungen von Jost Maximilian von Bronckhorst Graf zu Gronsveld im Dreißigjährigen Krieg. Gronsveld habe ohne Grand tour eine Militärlaufbahn für das "teutsche Vaterland" und die "catholische Religion", wie er schreibe, eingeschlagen und sich nach raschem Aufstieg bei der Liga 1627 in der Schlacht bei Lutter am Barenberge gegen König Christian von Dänemark große Verdienste erworben, sei aber nach einer Niederlage 1633 bei Hessisch Oldendorf gegen Herzog Georg von Lüneburg entlassen worden. In Köln habe er zu seiner Rechtfertigung und zur Wiederherstellung von Ruf und Ehre in deutscher Sprache die "Comoedia Gronsfeldiana postea ... in tragoediam mutata" verfasst; ein Druck sei zwar geplant gewesen, sei aber zunächst unterblieben. Erst 1647 wurde das Werk von Eberhard Wassenberg in der Kompilation "Der ernewerte Teutsche Florus" zum Teil abgedruckt. Gronsveld hatte sich inzwischen nach zwei weiteren Jahren in bayerischen Diensten in Köln niedergelassen. 1645 wurde er Militärgouverneur in bayerischen Diensten, wurde aber nach der Niederlage bei Zusmarshausen auf Befehl des Kurfürsten verhaftet, jedoch in einem Prozess freigesprochen. Später war er als Diplomat in kaiserlichen Diensten tätig, bevor er 1662 starb.

In der Diskussion wurde besonders hervorgehoben, dass es sich bei der Schrift Gronsvelds nicht um eine Autobiographie, sondern um eine Rechtfertigungsschrift gehandelt habe, die in einem bestimmten, für die Interpretation wichtigen Kontext entstanden sei. Schon Rudolf Dekker hatte in seinem Beitrag die Rechtfertigungsschriften zur Gruppe der Egodocumenten gezählt. Außerdem wurde darüber spekuliert, ob das Wort "teutsch" soviel wie "wozu wir gehören" bedeutet habe, oder ob es für jemanden, der wie Gronsveld aus einer Grenzregion stammte, weniger ausgeprägt gewesen sei. In ähnlicher Weise wurde das Prädikat "catholisch" als Ausweis für die Eignung zum Kampf für die katholische Religion in kaiserlichen Diensten angesehen. Die kleinen Adelsherrschaften im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden hätten sich eher zum Kaiser oder nach Brüssel orientiert.

Die letzte Sektion, durch die Herr Johan Seekles und Dr. Antje Diener-Staeckling, Archivarin am LWL-Archivamt für Westfalen, fürhten, befasste sich speziell mit Tagebüchern von Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frau Sheila Patel, die am Lehrstuhl "Neuere und Neueste Geschichte/Geschlechtergeschichte" promoviert, stellte das Thema ihrer Dissertation, die kurz vor dem Abschluss stehe, vor, die Tagebücher der Gräfin Maria Esterházy-Galántha, geb. Plettenberg-Mietingen (1809-61), als Beispiele weiblicher Schreibpraxis. Bis auf eines in französischer Sprache seien sie alle auf Deutsch verfasst. In der Dissertation untersucht werde die Selbstwahrnehmung der Gräfin, und wie sie ihre Epoche und ihre Beziehungen zu anderen empfunden und in den Tagebüchern dargestellt habe. Die Fragen nach der Selbstkonstitution würden dabei mit Fragen nach Erfahrung, Erinnerung, Diskurs und Emotion verbunden. Es ließen sich nach Entstehungszeit und Inhalt folgende Gruppen bilden: Jugendtagebücher bis zur Hochzeit mit Graf Nicolaus Esterházy (1824-1833), Tagebücher (1836-1848, 1853-1861), Wirtschaftstagebücher (1849-1861), Kindertagebücher (1844-1861) und Notizbücher mit Nachrichten verschiedener Art (1846-1853). Grundsätzlich sei das Führen von Tagebüchern fester Bestandteil der Erziehungspraxis des Adels im 19. Jahrhundert gewesen. Anhand der Tagebücher der Maria Esterházy könne man verschiedene Motive zum Schreiben unterscheiden: Ausdruck geheimer Gedanken und Gefühle, Festhalten von Merkwürdigkeiten, das Schreiben um seiner selbst willen zum Vergnügen, für die Nachwelt, zur Unterhaltung oder auch zur Reflexion.

Über den Verbleib der Tagebücher nach dem Tod der Verfasserin wurde festgehalten, dass sie an den Sohn vererbt und so nach Westfalen gekommen seien. Maria selbst habe einen engen Bezug zu Westfalen behalten, und der preußisch-österreichische Dualismus habe sie in einen Loyalitätskonflikt gestürzt. Inwieweit sich in den Tagebüchern tatsächlich eine eigentümliche weibliche Schreibpraxis zeige, müsse ein Vergleich mit anderen Tagebüchern noch ergeben. Jedenfalls wurde festgestellt, dass mit den Kindertagebüchern ein sehr moderner Typ des Tagebuchs vertreten sei. Wirtschaftliche Probleme würden vor allem bei den Missernten nach der 48'er Revolution thematisiert.

Katrin Brüntrup, Studentin der Volkskunde/Europäischen Ethnologie, der Neueren und Neuesten Geschichte und der Kommunikationswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, stellte auf der Grundlage der Tagebücher von Helene Gräfin von Plettenberg-Lenhausen, geb. Gräfin Stolberg-Stolberg aus Brustawe in Schlesien, exemplarisch den Eintritt einer jungen adeligen Frau in die Gesellschaft durch die Eheschließung vor. Auch diese führte von ihrem 18. Lebensjahr bis kurz vor ihrem Tod Tagebuch. Auf den späteren Bräutigam würden zunächst nur leise Andeutungen und Hinweise anderer Familienmitglieder weisen. Die Verlobung sei dann von Josef von Plettenberg selbst in das Tagebuch eingetragen ebenso wie die Geburt des ersten Kindes. Auf die Ziviltrauung, als "Katzenkomödie" bezeichnet, folgen die - für die gläubige Katholikin ungleich wichtigere - kirchliche Hochzeit, die Hochzeitsreise und der Einzug in Hovestadt. Insgesamt habe die Tagebuchschreiberin nur eine passive Rolle bei der Anbahnung der Ehe gespielt. Zweck der Tagebücher, aus denen früh auch vorgelesen worden sei, sei die Darstellung eines standesgemäßen Lebens gewesen.

In der Diskussion ergab sich, dass in die Tagebücher vereinzelt auch Fotos eingelegt worden seien und dass eventuelle Tagebücher des Ehemanns nicht erhalten sind. Ob Frauen generell ihre Tagebücher eher vernichten ließen blieb offen, doch sei es belegt, dass Helene Plettenberg einzelne Aufzeichnungen zerrissen habe. Es habe einen allmählichen Wandel von dem im Familien- und Verwandtenkreis wenigstens teilweise öffentlichen zum ganz persönlichen Tagebuch gegeben.

Der letzte Beitrag der Tagung schlug einen Bogen ins 20. Jahrhundert, als der Adel immer mehr mit der Moderne konfrontiert sah. Prof. Dr. Yme Kuiper, Anthropologe und Historiker an der Rijksuniversiteit Groningen, stellte diese Auseinandersetzung am Beispiel der Aufzeichnungen von Jeanne van Andringa de Kempenaer (1858-1927) dar. Jeanne hatte ihre Jugend in Westfriesland verbracht. Früh verwitwet wohnte sie einen großen Teil ihres Lebens in Den Haag und auf einem Schloss in Geldern, das einst im Besitz des hochadeligen Hauses Nassau gewesen war. Nachdem ein Schlossbrand alle Erinnerungen vernichtet hatte, verfasste sie ein Gedenkbuch und schrieb ihre Jugenderinnerungen nieder, die beide zur Lektüre bestimmt gewesen seien. Im Sinne des Beitrags von Marcus Funck und Stephan Malinowski im 2002 erschienenen Sammelband "The Work of Memory" seien diese Aufzeichnungen weniger von Fakten als von Erzählungen (narratives) bestimmt, indem die individuellen Erinnerungen vom kollektiven Gedächtnis ihres Standes und seiner Ideale überformt worden seien. Einfach, aber vornehm, gebildet und resolut, politisch reaktionär und antiliberal habe die Autorin einem irrealen ständischen Idealbild angehangen. Seit dem 19. Jahrhundert seien Memoiren des Adels als "lebendig gehaltene Erinnerungen" (Tomaso di Lampedusa) von Nostalgie für eine untergegangene Kultur geprägt gewesen.

In der Diskussion wurde noch einmal der zeittypische Charakter dieser Memoiren betont. Es müsse unterschieden werden, was zeittypisch und was ständisch sei.

In seinem Resümee der Tagung stellte Gunnar Teske den eigenen Charakter von Selbstzeugnissen des Adels heraus, die mit den Tagebüchern von Kavalierstouren, Kriegstagebüchern von Offizieren und den zuletzt vorgestellten "lebendig gehaltenen Erinnerungen" eigene Typen hervorgebracht hätten. Außerdem könnten sie aufgrund der Überlieferung in Adelsarchiven häufig um weitere Quellen aus der Umgebung des Verfassers ergänzt werden. Als Motive für die Verfasser seien im Laufe der Tagung neben der Selbstreflexion insbesondere Rechtfertigung und Selbstdarstellung, Dokumentation und Fortführung der Familientradition hervorgetreten. Dabei hätten die vorgestellten Selbstzeugnisse im Spannungsfeld von öffentlich und privat, persönlich und kollektiv gestanden und je nach Geschlecht eigene Formen entwickelt. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Niederlanden und Deutschland sei dagegen nicht beobachtet worden. Insofern seien die adeligen Egodocumenten, um zum Abschluss noch einmal den niederländischen Terminus zu verwenden, Teil einer länderübergreifenden europäischen Adelskultur. 

Es ist geplant, die Beiträge in einem Tagungsband zu publizieren.
Gunnar Teske



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