[WestG] [AKT] Tagungsbericht: Fragwuerdige Ehrungen!?: Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
Alexander Schmidt
Alexander.Schmidt at lwl.org
Mi Sep 7 10:51:49 CEST 2011
Von: "Katharina Stütz" <katharina.stuetz at lwl.org>
Datum: 05.09.2011, 14:18
AKTUELL
Tagungsbericht:
Fragwürdige Ehrungen!?
Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und
Erinnerungskultur
Ehren oder nicht ehren? Erinnern oder vom Straßenschild
entfernen? Diese Fragen scheinen derzeit in vielen Städten und
Gemeinden Nordrhein-Westfalens zentraler Bestandteil der
Debatten um die Umbenennung von Straßen zu sein, die den Namen
von "belasteten" historischen Akteuren tragen. Es geht also um
Personen, deren Leben und Wirken - nach aktuellem Stand der
historischen Forschung - diskussionswürdige Schnittmengen mit
der Ideologie und Politik des Nationalsozialismus aufweisen.
Seit einigen Monaten stößt man in der westfälischen Lokalpresse
immer wieder auf die Namen der Schriftstellerin Agnes Miegel
(1879-1964) oder des Mitbegründers und Vorsitzenden des
Westfälischen Heimatbundes Karl Wagenfeld (1869-1939), die eher
einem kleineren, regional zu verortenden Publikum bekannt sein
dürften, aber auch auf Namen wie jenen des
Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten Paul von Hindenburg,
an dessen Person und Rolle im Kontext der Machteroberung
Hitlers sich, wie die Diskussion in Münster zeigt, die Geister
scheiden.
In den Städten und Gemeinden, in denen bereits Debatten über
"belastete" Namensgeber auf der tagespolitischen Agenda standen,
wurden bislang ganz unterschiedliche Lösungswege gewählt: So
hat sich beispielsweise die politische Vertretung der Gemeinde
Neuenkirchen (Kreis Steinfurt) für die Umbenennung der
Wagenfeldstraße ausgesprochen, wohingegen sich der Rat in
Drensteinfurt (Kreis Warendorf) für die Anbringung eines Index
bzw. einer Erläuterung unter dem eigentlichen Straßenschild
entschieden hat.
Was die Diskussion vielerorts dennoch nicht zur Ruhe kommen
lässt, ist der oft gehörte Vorwurf, dass die politisch
Verantwortlichen ihre Beweggründe nicht genügend transparent
gemacht oder an der Bürgermeinung vorbei entschieden hätten. In
Münster, wo bislang noch keine endgültige Entscheidung
bezüglich des Hindenburgplatzes getroffen wurde, hat eine aus
Mitgliedern der Ratsfraktionen und Historikern bestehende
Kommission zwölf Straßennamen einer Bewertung unterzogen, deren
Genese und inhaltliche Begründung auf eigenen
Informationsveranstaltungen bekannt gemacht und diskutiert
werden sollen.
Die öffentliche Tagung "Fragwürdige Ehrungen!? - Straßennamen
als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur",
die am 12. Juli 2011 mit über 200 Teilnehmerinnen und
Teilnehmern in Münster stattfand, wurde von Matthias Frese und
Katharina Stütz (beide LWL-Institut für westfälische
Regionalgeschichte) konzipiert und organisiert und vom
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte gemeinsam mit
der LWL-Literaturkommission für Westfalen sowie dem
Westfälischen Heimatbund ausgerichtet. Sie war in zwei
Sektionen gegliedert: Im ersten Teil der Tagung ging es darum,
die Benennungspraxis von Straßen in Westfalen und Lippe seit
dem 19. Jahrhundert nachzuvollziehen und speziell Umbenennungen
während der NS-Zeit und nach 1945 zu thematisieren; im zweiten
Teil wurden ausgewählte 'Grenzfälle' zur Diskussion gestellt,
also die Biographie von Namensgebern, deren Leben und Wirken
heute kontrovers beurteilt wird.
Die Tagung zielte primär darauf ab, die bisweilen sehr
emotional geführte Debatte um die Umbenennung von Straßen zu
versachlichen. Auf Grundlage der Vermittlung von historischem
Faktenwissen sollte zudem eine größere Sensibilität im Umgang
mit den einzelnen Personennamen für zukünftig zu erwartende
Debatten geweckt werden. In diesem Sinne plädierte auch der
Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und
zugleich Vorsitzende des Westfälischen Heimatbundes, Wolfgang
Kirsch, in seiner Begrüßung für eine unvoreingenommene
Diskussion mit den Bürgern vor Ort. Er betonte aber zugleich,
dass die Entscheidung über mögliche Straßenumbenennungen
letztlich den politischen Verantwortlichen in den Städten und
Kommunen obliege.
Die erste Sektion der Tagung wurde von Rainer Pöppinghege
(Paderborn) eröffnet, der seinen Ausführungen die Grundannahme
voranstellte, dass Straßenbenennungen immer auf den Zeitpunkt
ihrer Entstehung schließen und mehrere Etappen in der
Erinnerungskultur einer Gesellschaft sichtbar werden ließen. Er
arbeitete dann heraus, dass Straßennamen in der Frühen Neuzeit
vorrangig eine Orientierungsfunktion besaßen, die dann seit dem
späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert von einer Erinnerungs-
und Repräsentativfunktion überlagert wurde, die im Wesentlichen
der Legitimation politischer Systeme diente. Zudem machte
Pöppinghege darauf aufmerksam, dass Straßenbenennungen Ehrungen
darstellten und keine Mahnmale seien, woraus sich die Frage
ergebe, wie man mit Personen umgehen solle, deren
"Ehrwürdigkeit" in Frage gestellt sei.
Und schließlich vertrat er den Standpunkt, dass Straßennamen
kein Spiegel der Geschichte seien, da sie selektiv seien und
von denjenigen Bevölkerungsgruppen ausgewählt würden, die für
einen bestimmten Zeitraum das Deutungs- und Meinungsmonopol
besitzen. Abschließend arbeitete er zwölf
"Benennungskonjunkturen" heraus: So waren in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts unter anderem dynastische Namen
überdurchschnittlich präsent, wohingegen in den 1950er Jahren
NS-Opfer und Heimatdichter und in den 1980er Jahren lokale
Frauenpersönlichkeiten vermehrt durch Straßenbenennungen geehrt
wurden. Wichtige Erkenntnisse zur Benennungspraxis in
Abhängigkeit von historischen Ereignissen des 19. und 20.
Jahrhunderts hat Pöppinghege durch den direkten Vergleich
verschiedener westfälischer Städte wie Münster, Paderborn und
Dortmund gewonnen.
So konnte er feststellen, dass eine Vielzahl der in Münster in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergebenen Straßennamen
eine stark dynastische und militärische Prägung aufwiesen, was
auf die damalige Funktion als Hauptstadt der ehemaligen
preußischen Provinz Westfalen zurückzuführen ist. Dieses
Kriterium hatte folglich für Paderborn keinerlei Bedeutung,
zumal hier offensichtlich auch der Einfluss der katholischen
Kirche auf die Namensgebung wirksam war. In der anschließenden
Diskussion wurde noch zu bedenken gegeben, dass man in die
Debatte um Umbenennungen auch Schulen, Preise etc. mit
einbeziehen sollte.
In seinen Ausführungen zu Straßenumbenennungen in Westfalen und
Lippe im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit stützte
sich Marcus Weidner (Münster) unter anderem auf Ergebnisse
einer schriftlichen Umfrage, die er im Vorfeld der Tagung unter
allen Gemeinde- und Stadtarchiven in Westfalen durchgeführt
hatte und deren Ergebnisse in ein Datenbankprojekt zu
"NS-Straßennamen" einfließen sollen. Er hob hervor, dass
während der NS-Zeit eine Politisierung des
Straßenbenennungsverfahrens erfolgt sei. Bezugnahmen auf den
Nationalsozialismus wurden im Straßenraum präsenter, wohingegen
man gleichzeitig bemüht war, alles das zu verbannen, was
regimekritisch war oder an die Weimarer Republik erinnerte bzw.
anknüpfte ("negative Benennungspraxis").
Diese Praxis sollte unmittelbar nach 1933 dazu dienen,
kollektive Identität zu stiften, und gleichzeitig eine
Abgrenzung bzw. einen Bruch mit vergangenen Ehrungsbezeugungen
und – damit einhergehend – Erinnerungskulturen herbeiführen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Umgang der
Nationalsozialisten mit Straßennamen auch als Indiz für die
Schaffung eines ‚von oben‘ verordneten Geschichtsbildes
begreifen. Erste Tendenzen, die sich auf Grundlage der neu
gewonnenen Daten für die Benennungspraxis im
Nationalsozialismus abzeichnen, sind demnach die Benennungen 1)
nach Führungspersonen des NS-Regimes, 2) nach militärischen
Führungskräften sowie 3) nach Gebieten, zu denen vor allem jene
gehörten, die Deutschland infolge des Versailler Vertrages
abtreten musste.
Für die Zeit nach 1945 stellte Weidner zwei Phasen der
Straßenbenennungspraxis fest: zum einen das unmittelbare
Kriegsende 1945, zum anderen die Konsolidierung zwischen 1946
und 1949. Die erste Phase war dadurch gekennzeichnet, dass in
den Städten und Gemeinden ab März 1945 eine in Eigenregie der
Bewohner eher planlos durchgeführte Entfernung von
Straßenschildern auf eine durch die Militärregierung verordnete
Anweisung an die Stadtverwaltungen traf, betroffene Straßen
umgehend umzubenennen. Im Kontext der nach 1946 auch auf den
symbolischen Bereich übertragenen Grundsätze der
Denazifizierung und Demilitarisierung kam es dann vermehrt zu
Disparitäten im öffentlichen Umgang mit dem "Straßennamenerbe"
- so z. B. im Hinblick auf die Person Hindenburgs, da man ihn
für seine Rolle im Ersten Weltkrieg zwar nicht mehr ehren
durfte, ihn aber aufgrund seiner Funktion als "Staatsmann"
weiterhin auf den Straßenschildern belassen wollte.
Weidner konstatierte, dass die Straßenumbenennungen auf
kommunaler Ebene im Rahmen demokratischer Verfahren verhandelt
wurden und dass die Entscheidung, wer auf das Straßenschild
durfte und wer nicht, letztlich von den politischen
Mehrheitsverhältnissen abhängig war. Schließlich plädierte
Weidner für eine umfassendere Untersuchung der jeweiligen
lokalen Hintergründe von Straßen(um)benennungen, da auf dieser
Ebene bisher wenige Studien vorlägen. Aus dem Plenum kam die
ergänzende Bemerkung, dass es in den 1960er und 1970er Jahren
noch weitere Benennungswellen gegeben habe, im Zuge derer
zumeist die "zweite Karriere" nationalsozialistisch-belasteter
Personen – beispielsweise als Heimatforscher – gewürdigt worden
sei (auch Rainer Pöppinghege hatte in seinem Vortrag bereits
darauf hingewiesen). Zudem wurde hervorgehoben, dass bestimmte
Biographien nur lokal entschlüsselt und diskutiert werden
könnten. Ferner zeige sich vor diesem Hintergrund erneut, dass
eine allgemeine Handlungsempfehlung im Umgang mit fragwürdigen
Straßenbenennungen wenig sinnvoll sei.
In der zweiten Sektion der Tagung wurden verstärkt Akteure aus
dem Bereich der westfälischen Literatur und der westfälischen
Heimatbewegung vorgestellt, deren Leben und Wirken aufgrund der
aktuellen Forschungen kontrovers beurteilt werden. Sowohl
Walter Gödden (Münster/Paderborn) als auch Karl Ditt (Münster)
machten deutlich, wie eng die Bereiche westfälische Literatur,
Heimatbewegung und NS-Ideologie miteinander verknüpft waren und
sich gegenseitig bedingten. Gödden stellte seinem Vortrag
einige Kennzahlen voran, die er im Rahmen einer im Vorfeld der
Tagung durchgeführten quantifizierenden Analyse belasteter
Straßennamen bereits gewonnen hatte. Auf dieser Grundlage ließ
sich feststellen, dass sich unter den über 2.100 westfälischen
Autor/-innen, die in dem von ihm herausgegeben Westfälischen
Autorenlexikon erfasst sind, rund 60 Schriftsteller/-innen
befinden, die sich in den Dienst des Nationalsozialismus
gestellt haben. Ein Drittel dieser Autoren wiederum sind auch
heute noch in Westfalen und vereinzelt überregional auf
Straßenschildern vertreten. Insgesamt ging er davon aus, dass
nach wie vor über 250 mehr oder weniger belastete Straßennamen
existieren.
Aus der inhaltlichen Analyse seiner statistischen Befunde in
Bezug auf die Häufigkeit von Namensnennungen auf
Straßenschildern leitete Gödden insgesamt zehn Kategorien ab,
innerhalb derer er die betreffenden westfälischen Autoren
verortete. Hieraus geht hervor, dass ‚Autor/-innen der
Heimatbewegung‘ eindeutig im Vordergrund der Benennungen von
Straßen, Plätzen, Schulen etc. stehen. Als weitere Kategorien
lassen sich benennen:
- Radikale NS-Propagandistinnen (Maria Kahle, Josefa
Berens-Totenohl)
- Infiltrierte Pädagogen (Heinrich Luhmann, Franz Rinsche,
Hermann Homann, Fritz Nölle)
- Populisten (Josef Winckler, Walter Vollmer, Heinz Steguweit)
- Multiplikatoren (Josef Bergenthal, Ludwig Bäte)
- Die "Jüngeren" und Spuren des Journalismus (Erwin Sylvanus,
Friedrich Wilhelm Hymmen, August Kracht, Heinrich Maria
Denneborg, Herbert Reinecker)
- Lokale Größen (Hermann Hagedorn, Lothar Irle)
- Die Intellektuellen (Friedrich Sieburg, Adolf von Hatzfeld,
Gertrud Bäumer)
- Der Blick über die Grenze (Richard Euinger, Lulu von Strauß
und Torney)
- Mitläufer und Autoren aus der zweiten Reihe.
Trotz der von ihm vorgenommenen Kategorienbildung plädierte
Gödden dafür, alle genannten Schriftsteller/-innen für sich
allein zu betrachten und zu bewerten. Das Jahr 1945 stelle
keine Zäsur für das Schaffen der genannten westfälischen
Autor/-innen dar; ganz im Gegenteil sei ein Großteil von ihnen
sehr schnell rehabilitiert worden. Gödden machte am Beispiel
des Schriftstellers und Mitglieds des Westfälischen
Heimatbundes Josef Bergenthal (1900-1982) deutlich, dass auch
hochgradig belastete Autoren noch bis weit in die 1950er Jahre
Veröffentlichungen herausbringen konnten, die
völkisch-nationalistisches Gedankengut enthielten.
Hinsichtlich der weiteren Diskussion um die von ihm
vorgestellten westfälischen Schriftsteller regte Gödden die
Erstellung eines "objektivierbaren Kriterienkatalogs" an.
Dieser könne sich beispielsweise an der Mitgliedschaft und
leitenden Funktionen in NS-Organisationen und/oder
Schriftstellerverbänden, der aktiven Verbreitung von
NS-Gedankengut und der Parteimitgliedschaft vor oder nach 1933
orientieren; diese Kriterien eigneten sich dann zukünftig als
Grundlage für Diskussionen über die Umbenennung von Straßen.
Gödden abschließend: "Aus literarischer Perspektive kann nur
noch einmal wiederholt werden: Es gibt in Westfalen eine
hinreichende Zahl von Autorinnen und Autoren, die Städten und
Gemeinden besser zu Gesicht stünden als die konservativ
verengten Heimatautoren."
Karl Ditt (Münster) stellte daran anschließend den wohl
prominentesten Repräsentanten aus dem Kreis der westfälischen
Heimatbewegung vor. Er thematisierte das Denken und Wirken von
Karl Wagenfeld in der Interaktion zwischen
Heimatdichtung/-bewegung und nationalsozialistischer Ideologie
und warf die Frage auf, ob man Wagenfeld aus historischer
Perspektive als Wegbereiter und Propagandist des
Nationalsozialismus bezeichnen könne. Laut Ditt trat Wagenfeld
noch vor dem Ersten Weltkrieg vehement für die Gründung eines
Westfälischen Heimatbundes ein und knüpfte daran die
Zielsetzung eines dauerhaften Schutzes für das gesamte
"westfälische Volkstum". Dieses sah er als gefährdet an: durch
externe Einflüsse wie die Zerstörung der Natur und Landschaft
oder die Konzentration der Menschen in den Großstädten als
Folgen der Industrialisierung sowie durch eine Schwächung der
Verbundenheit mit der Heimat, die wiederum durch eine Mischung
von Rassen und Kulturen unterschiedlicher Herkunftsgebiete
bedingt sei.
Bereits während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik
propagierte Wagenfeld eine (westfälische) Volkskultur auf
religiöser Grundlage, schlug eine Siedlungsbewegung gen Osten
(Stichwort: "Schollenverbundenheit") vor und plädierte für die
Einhaltung eugenischer Regeln zum Schutz des "Stammes- und
Blutserbes der Väter" gegenüber "Fremdrassigen". Dass
Wagenfelds völkisch-konservatives Weltbild schließlich hohe
Anschlussfähigkeit an die NS-Ideologie in sich barg, zeigte
sich nach Ditt darin, dass Wagenfeld im April 1933 in die NSDAP
eintrat und sich selbst als Vorläufer der Nationalsozialisten
verstand. Überdies bemühte sich Wagenfeld um ein
partnerschaftliches Bündnis zwischen der Heimatbewegung und dem
Nationalsozialismus, was sich beispielsweise deutlich am Motto
"Heimat und Reich" des Westfalentages von 1933 ablesen lasse.
Ditt arbeitete mehrere Aspekte heraus, anhand derer sich
Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen Wagenfelds
Ansichten und der NS-Ideologie erkennen lassen. Eine hohe
Übereinstimmung zeigte das Ziel der Schaffung einer homogenen
"Volksgemeinschaft" sowie das Verständnis von Rasse als
Kategorien der In- und Exklusion. Auch sind gedankliche
Überschneidungen im Hinblick auf die Bewertung der modernen
Massenkultur und der "Stämme" mit ihrem Brauchtum erkennbar.
Ein wesentlicher Unterschied in beiden Anschauungen bestehe
darin, dass christliche Motive für Wagenfelds Denken
grundlegend waren, wohingegen die NS-Führung jeglicher Form von
Religiosität eher ablehnend gegenüber stand.
In seiner abschließenden Beurteilung der Person Wagenfeld hob
Ditt hervor, dass dessen Weltanschauung mehr Anknüpfungspunkte
als Unterschiede zur NS-Ideologie aufweise. Trotzdem sprach
sich Ditt dafür aus, Wagenfeld auch weiterhin auf den
Straßenschildern zu belassen und diese lediglich durch einen
Index zu ergänzen. In der anschließenden Diskussion wurden aber
eindeutigere Kriterien zur Klärung der Frage gefordert, wann
eine Umbenennung unumgänglich sei. Diskussionswürdig erschien
zudem die von Ditt getroffene Unterscheidung zwischen
"biologischem" und "kulturellem" Rassismus. Es wurde kritisiert,
dass die strikte Trennung bzw. eine Hierarchisierung beider
Konzepte unverständlich sei und Wagenfelds Äußerungen
beispielsweise zu Fragen der Eugenik oder in Bezug auf den
Umgang mit sogenannten ‚Minderwertigen‘ deutlich
völkisch-rassistisches Gedankengut erkennen ließen. Vor diesem
Hintergrund wurde angeregt, die gewonnenen Erkenntnisse
unabhängig davon zu bewerten, dass Wagenfeld mit einem Großteil
seiner Ansichten bereits in den 1920er Jahren nicht zu einer
gesellschaftlichen Minderheit gehörte.
Im Anschluss stellte Steffen Stadthaus (Münster) mit Agnes
Miegel und Friedrich Castelle zwei Schriftsteller und deren
Wirken während des Nationalsozialismus vor und beleuchtete den
vergangenheitspolitischen Umgang mit diesen beiden
westfälischen Heimatautoren nach 1945. Beide seien vor allem in
den späten 1950er und frühen 1960er Jahren in einer Vielzahl
von Fällen mit Straßenbenennungen gewürdigt worden, wobei die
Initiativen im Hinblick auf die Würdigung von Agnes Miegel im
Wesentlichen von den Heimatvertriebenenverbänden ausgegangen
seien, die sie als "Mutter Ostpreußens" und "Poetische Stimme
der Vertriebenen" zu ehren suchten.
Stadthaus machte gleich zu Beginn seines Vortrages deutlich,
dass Miegels Engagement im "Dritten Reich" unumstritten sei und
sie heute innerhalb der Literaturwissenschaft als
nationalsozialistisch-belastete Autorin angesehen werde. Vor
diesem Hintergrund führte er aus, dass ihre literarischen Werke
während des Nationalsozialismus eine zunehmende
Nationalisierung (z. B. ‚Die Schlacht von Rudau‘) erfahren
hätten und die inhaltliche Ausgestaltung ihrer Hauptmotive
Heimat, Krieg, Gemeinschaft und Opferbereitschaft zunehmend
Überschneidungen mit der NS-Ideologie aufwiesen. Bereits 1933
legte Miegel zusammen mit anderen deutschen Schriftstellern ein
"Gelöbnis treuester Gefolgschaft" für Adolf Hitler ab. Später
verfasste sie auch Elogen auf ihn (z. B. ‚Dem Schirmer des
Volkes‘).
Umgekehrt wurde sie von den Nationalsozialisten 1944 als
"gottbegnadete Dichterin" hochverehrt. Nach Miegels
Entnazifizierung im Jahr 1949 konnte sie als Schriftstellerin
schnell wieder Fuß fassen; ihre vollständige Rehabilitierung
war für die Öffentlichkeit spätestens 1958 mit der Verleihung
des Bayerischen Literaturpreises erreicht. Stadthaus wies
darauf hin, dass es in den 1950er Jahren keine öffentliche
Auseinandersetzung mit der Rolle Miegels im Nationalsozialismus
gegeben habe. Er erklärte diese unkritische Haltung mit der
Vergangenheitspolitik der noch jungen Bundesrepublik, die im
Wesentlichen durch Schuldverdrängung gekennzeichnet gewesen
sei. Am Ende seiner Ausführungen zu Agnes Miegel machte
Stadthaus deutlich, dass er in der westfälischen
Schriftstellerin aufgrund ihrer kulturpolitischen Unterstützung
des NS-Regimes und einer fehlenden selbstkritischen Haltung
bzw. Distanzierung nach 1945 keine ehrbare Namensgeberin für
Straßen, Schulen etc. sehe. Zugleich wies er aber auch darauf
hin, dass man vor diesem Hintergrund nicht ihr gesamtes
schriftstellerisches Werk diskreditieren dürfe.
Demgegenüber ging die Haltung des vor allem in Westfalen
bekannten Friedrich Castelle (1879-1954) zum
Nationalsozialismus über die bloße Verehrung der Person Adolf
Hitlers und der schriftstellerischen Verbreitung der
NS-Ideologie in seinen Werken eindeutig hinaus, da er als
Obmann der NS-Kulturgemeinde des Kreises Burgsteinfurt oder in
seiner Funktion als führender Mitarbeiter der
Reichsschrifttumskammer die NS-Kulturpolitik aktiv mitgestaltet
habe. Bereits in den späten 1920er Jahren war Castelle
Herausgeber der Monatsschrift "Der Türmer", die
nationalistisch-völkisches Gedankengut propagierte.
Gemeinsam mit Karl Wagenfeld gab er zudem die Westfälische
Landeszeitung "Rote Erde" heraus, die sich thematisch im
Dunstkreis der zeitgenössischen Diskurse um Eugenik, Rassismus
und Modernisierungsängste bewegte. Ähnlich wie Agnes Miegel
radikalisierte sich Castelles Rhetorik nach 1933 zunehmend und
ließ deutliche Schnittmengen mit nationalsozialistischem
Gedankengut erkennen. Nach 1945 wurde Castelle ebenfalls zügig
rehabilitiert und konnte bis zu seinem Tod im Jahr 1954 sowohl
journalistisch als auch schriftstellerisch tätig sein.
Eindeutiger noch als im Fall von Agnes Miegel plädierte
Stadthaus gegen eine weitere Ehrung Friedrich Castelles auf
Straßenschildern und stellte abschließend heraus, dass es
würdigere Vertreter der Literatur gebe als die beiden
vorgestellten westfälischen Schriftsteller, die sich vom
NS-Regime vereinnahmen ließen, sich aktiv im kulturpolitischen
Bereich engagierten und sich vor allem nach 1945 nicht von
ihrer NS-Haltung distanzierten.
Im Anschluss an den Vortrag wurde angemerkt, dass Castelle im
"Dritten Reich" zum Leiter eines Senders aufgestiegen sei und
sich damit zur Förderung seiner Karriere ganz bewusst in den
Dienst der NS-Propaganda gestellt habe. Bezogen auf den Hinweis
aus dem Plenum, dass die Rolle Castelles als westfälischer
Heimatdichter nicht ausreichend gewürdigt und somit seine
Denkweisen verkürzt wiedergegeben worden seien, machte
Stadthaus deutlich, dass für die Diskussion um die Umbenennung
von Straßen das schriftstellerische Schaffen zugunsten seiner
Aktivitäten im Bereich der NS-Kulturpolitik vernachlässigbar
sei.
Im letzten Vortrag der Tagung referierte Hans-Ulrich Thamer
(Münster) über die neueren historischen Erkenntnisse zur
politischen Biographie Paul von Hindenburgs und ging der Frage
nach, welche Stationen und Motive die Ehrung seiner Person im
Hinblick auf Straßenbenennungen seit fast hundert Jahren
bestimmt haben. Thamer betonte, dass die Geschichte von
Ehrungen, aber auch Aberkennungen von Namen auf
Straßenschildern, die Brüche und Ambivalenzen im Zeitalter der
Extreme und der Nachkriegszeit widerspiegelten. Die
Widersprüche und Kontroversen um Hindenburg seien Ausdruck des
öffentlichen Umgangs der Nachkriegsgesellschaft mit Zeugnissen
und Symbolen von Militarismus und Diktatur. Zudem machte Thamer
in Anlehnung an die vorangegangene Diskussion deutlich, dass er
die Grundlage für die Beurteilung eines historischen Akteurs in
der Untersuchung der politischen Praxis und weniger in der
Analyse programmatischer Äußerungen dieser Person sehe.
Bezogen auf Hindenburg stand für ihn außer Frage, dass die
Machtübertragung an Adolf Hitler Zeugnis eines zielgerichteten
politischen Handelns war, das maßgeblich zur Etablierung und
Stabilisierung des NS-Regimes beitrug. Spätestens nach 1929/30
wirkte Hindenburg aktiv an der autoritären Verformung der
parlamentarisch-demokratischen Verfassungsordnung zum Zweck der
Errichtung einer ‚Nationalen Einheit‘ bzw. ‚Volksgemeinschaft‘
mit. Als sich herausstellte, dass dieses Ziel nicht mehr ohne
die Unterstützung der nationalsozialistischen Kräfte
realisierbar war, sah er seit Ende 1932 die letzte Chance in
der Kanzlerschaft Hitlers. Dass nur kurze Zeit nach der
Machteroberung Hitlers die ersten ‚wilden‘ Konzentrationslager
errichtet wurden, Gegner des Nationalsozialismus verfolgt,
inhaftiert und ermordet wurden und sich ein zunehmend
aggressiver Antisemitismus etablierte, seien nach Thamer
Vorgänge, von denen Hindenburg zumindest wusste und die er als
Reichspräsident mittrug.
Im zweiten Teil seines Vortrags, der sich auf die Person
Hindenburgs in der Erinnerungpolitik der Bundesrepublik
konzentrierte, wies Thamer darauf hin, dass der 1934
verstorbene Reichspräsident Hindenburg noch mit ca. 400
Namensgebungen im öffentlichen Raum präsent sei. Eine erste
Welle von Umbenennungen habe es in der unmittelbaren
Nachkriegszeit gegeben. Eine zweite Welle von Forderungen nach
Umbenennung erfolgte als Echo auf die ‚unruhigen‘ 1960er Jahre
– jedoch ohne nennenswerte Erfolge. Am Beispiel der Stadt
Münster machte Thamer deutlich, dass seit Ende der 1980er Jahre
die Debatte um die Umbenennung des Hindenburgplatzes "alle
Jahre wieder" auf die politische Agenda gesetzt werde. Er
wertete dies sowohl als Zeugnis einer demokratischen
Diskussionskultur als auch als sichtbaren Prozess einer
permanenten Neuverhandlung der offiziellen Erinnerungskultur.
Thamer hob zudem hervor, dass im Rahmen einer öffentlichen
Diskussion um Straßennamen transparent gemacht werden sollte,
welche Motive für die Benennung und Umbenennung maßgeblich
waren. Abschließend gab er zu bedenken, dass Hindenburg selbst
jeder Form des politischen Pluralismus ablehnend
gegenübergestanden bzw. diesem aktiv entgegen gewirkt habe.
Argumente für ein Festhalten an Hindenburg als Namenspatron
gebe es eigentlich nicht. Im Hinblick auf eine Verortung des
ehemaligen Reichspräsidenten innerhalb der deutschen
Erinnerungspolitik und damit konkret dessen Ehrung auf
Straßenschildern sei aber die Beantwortung der Frage
entscheidend, in welcher Rolle oder Funktion Hindenburg
erinnert werden solle: als ‚Held des Ersten Weltkriegs‘ in der
Schlacht von Tannenberg, als Reichspräsident bzw. selbst
ernannter ‚Retter‘ während der Weimarer Republik oder als
Stifter einer vermeintlich ‚Nationalen Einheit’ im Übergang zur
NS-Diktatur? Man könne aber auch die Frage stellen, ob
Straßenbenennungen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus
erhalten werden sollten, weil die damaligen Befürworter zu
diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, welche politische
Rolle Hindenburg später im Kontext des "Dritten Reiches"
spielen würde.
In der folgenden Gesprächsrunde wurde angeregt, die Diskussion
insgesamt etwas unaufgeregter zu sehen, da diese eigentlich
fester Bestandteil einer demokratisch verfassten Gesellschaft
sein sollte. Ditt plädierte im Hinblick auf die Frage nach der
konkreten Vorgehensweise im Umbenennungsprozess – ähnlich wie
Gödden schon in seinem Vortrag – für einen Kriterienkatalog zur
differenzierten Beurteilung der fraglichen Fälle. Er schlug
zwei Kriterien vor, die jeweils gegen eine Ehrung sprechen
könnten: den Rassismus jeweils in Wort und Tat und den
abwertenden Umgang mit Minderheiten.
Auf eine Anmerkung aus dem Plenum, dass eine Vielzahl von
Bürgern häufig noch national-konservativen
Argumentationsmustern folge, in deren Sinne bestimmte
Straßennamen als unantastbare, zu schützende Traditionen
bewertet würden, warf Thamer ein, dass Tradition als etwas
grundsätzlich Erhaltenswertes zu betrachten sei. Jedoch müssten
dort die Grenzen der Traditionspflege gezogen werden, wo es um
die Verletzung von Menschenrechten bzw. qua Verfassung
geschützten Normen gehe. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass
die Diskussionen auch deshalb so emotional geführt würden, weil
sie in das Alltagsleben der Bürger eingriffen und zugleich das
Nachdenken über die Frage provozierten, in welcher Tradition
man denn persönlich stehen möchte.
Teilnehmer aus dem Plenum plädierten dafür, im Rahmen
zukünftiger Diskussionen die Semantik der Begriffe Erinnerungs-
und Gedächtniskultur deutlicher herauszustellen. Zudem kam die
Frage auf, ob auch die Klärung, wer im Fall einer Umbenennung
an die Stelle der alten Namensgeber treten solle, auch zum
erinnerungskulturellen Diskurs zwischen Öffentlichkeit und
Wissenschaft gehöre. Ditt merkte dazu an, dass es nicht nur
legitim sei, sich darüber innerhalb des Diskussionsprozesses
Gedanken zu machen, sondern dass man sich auch bewusst machen
müsse, dass Städte und Gemeinden über die Namensgebung auf
Straßenschildern ihr Image steuern könnten. Er schlug vor,
Opfer des Nationalsozialismus, derer auch bereits auf
Stolpersteinen gedacht werde, mit Straßenschildern zu ehren.
Zum Abschluss der Tagung wurde der Vorschlag gemacht, einen
Runden Tisch oder ein Forum einzurichten, um die aktuell
geführten Diskussionen zusammen- und fortzuführen.
Insgesamt hat die Tagung eine offene, sachlich-argumentative
Diskussion über die fragwürdigen Ehrungen einiger westfälischer
"Protagonisten" ermöglicht, die ‚vor Ort‘ fortgesetzt werden
sollte. Der Fokus hätte noch stärker auf der Herausarbeitung
von Kriterien für die Bewertung von und im Umgang mit
sogenannten ‚Grenzfällen‘ liegen können. Die zentrale Frage, ob
man – vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zu
den genannten Personen – deren Ehrung gegenwärtig noch
erinnerungspolitisch legitimieren kann, sollte in diesem
Kontext ebenfalls weiter in den Vordergrund gerückt werden. Man
hätte zudem die Grenze zwischen historischer Forschung und
politischer Entscheidung klarer ziehen müssen.
In diesem Sinne kann und darf es nicht als primäre Aufgabe der
Historiker angesehen werden, eine ‚schwarze Liste‘ mit den
Namen derjenigen Personen zusammenzustellen, die nicht mehr auf
Straßenschildern vertreten sein dürfen. Gleichwohl ist auch
deutlich geworden, dass sich die Historiker im Spannungsfeld
von Forschung und aktuellen, geschichtspolitischen Debatten
einer eigenen Einschätzung nicht entziehen dürfen. Zugleich
sollte man die Aufarbeitung von sogenannten ‚belasteten
Biographien‘ durchaus als Chance für die Vermittlung
historischer Forschung an ein breites Publikum verstehen. Eine
Publikation der Vorträge befindet sich in Vorbereitung.
INFO
Katharina Stütz
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Karlstraße 33
48147 Münster
Tel.: (0251) 591-5706
Fax. (0251) 591-3282
E-Mail: katharina.stuetz at lwl.org
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