[WestG] [LIT] Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte

Alexander Schmidt Alexander.Schmidt at lwl.org
Mit Apr 21 18:22:24 CEST 2004


Von: "Josef König" <josef.koenig at presse.ruhr-uni-bochum.de>
Datum: 21.04.04, 14:27


LITERATUR

Vom Saisonarbeiterlager zum KZ
Musterstadt und Massenvernichtungslager
RUB-Publikation über die Geschichte von Auschwitz

Für "Sachsengänger", also Saisonarbeiter aus dem Osten Polens, die auf
Arbeitssuche ins Deutsche Reich gingen, wurden im Ersten Weltkrieg die
Barackenanlagen des späteren KZ s Auschwitz erbaut. Dessen Geschichte
beginnt früher als allgemein bekannt ist. Einen breiten Überblick über die
Geschehnisse in der Stadt Oswiecim und dem KZ Auschwitz vor und während der
NS-Zeit sowie über den juristischen Umgang mit den Verbrechen nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges hat Dr. Sybille Steinbacher, (Lehrstuhl für Neuere
und Neueste Geschichte der RUB, Prof. Dr. Frei) in der Reihe "Wissen" des
Verlags C.H. Beck veröffentlicht. "Auschwitz. Geschichte und
Nachgeschichte" gibt umfassend Einblick in die Entstehung und Geschichte
der Stadt und des Konzentrationslagers und die Geschehnisse im Zweiten
Weltkrieg bis zur viel diskutierten Auschwitz-Lüge. Die Autorin war
Mitarbeiterin der von Prof. Dr. Norbert Frei initiierten und
herausgegebenen "Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz"
(erschienen 2000).

Zwischen Deutschland und Polen

Oswiecim wurde seit seiner Entstehung 1178 zwischen dem Deutschen Reich,
Böhmen und Polen mehrmals hin- und hergerissen. Auf die "Ostkolonisation"
im Mittelalter, beriefen sich später die Nationalsozialisten, um ihren
Anspruch auf den so genannten Lebensraum im Osten zu begründen. Dass der
Völkerbund Oberschlesien 1921 entgegen dem Ergebnis einer Volksabstimmung
geteilt hatte, war für sie ein weiteres willkommenes Argument für die
Eroberung polnischer Gebiete. Den polnischen Teil nannten die Deutschen nun
Ostoberschlesien, was den deutschen "Besitzanspruch" bekräftigen sollte.

Das Konzentrationslager

Wenig bekannt ist die Vorgeschichte des Konzentrations- und
Vernichtungslagers. Schon 1916 entstand ein Barackenlager als Wohnort für
die so genannten Sachsengänger. Nach dem Einmarsch in Polen 1939 begannen
die Nationalsozialisten in Oswiecim/Auschwitz mit ihrer grausamen
"Germanisierungspolitik". Sie siedelten polnische Juden in die Stadt um. Ab
Anfang 1940 bauten sie das alte Barackenlager zum Konzentrationslager aus.
In dessen erster so genannter polnischer Phase (bis Mitte 1942) diente es
als Gefängnis für polnische politische Gefangene, nicht für Juden; es gab
zwar noch keinen organisierten Massenmord, aber schon zu diesem Zeitpunkt
waren die Bedingungen im Lager lebensbedrohlich. Die Versorgung war
mangelhaft, auch wurden die Häftlinge zur Zwangsarbeit für die Industrie
verpflichtet, die oftmals den Tod bedeutete. Es gab eine von der Lager-SS
kontrollierte Häftlingshierarchie, um solidarische Aktionen zu unterbinden.
Hier waren die Juden die rangniedrigsten Gefangenen, unabhängig von ihrer
Nationalität. Dennoch formierte sich Widerstand im Lager, trotz der
Hindernisse und der Gefährlichkeit solcher Aktionen. Es entstand die
"Kampfgruppe Auschwitz", die unter anderem Lebensmittelschmuggel und
Fluchtversuche organisierte.

Zukunftspläne der Nazis

Gleichzeitig bauten die deutschen Besatzer die Stadt Auschwitz zur
"Musterstadt" des nationalsozialistischen Weltbilds aus. Die Stadt sollte
zum "Bollwerk des Deutschtums im Osten" werden. Deutsche Familien,
SS-Angehörige und Geschäftemacher ließen sich hier nieder. Familienidyll
und Massenmord schienen kein Widerspruch zu sein, dienten sie doch dem
Aufbau der "rassenreinen Volksgemeinschaft". Ab Mitte 1942 begannen die
Nationalsozialisten mit der systematischen Massenvernichtung, der so
genannten Endlösung der Judenfrage. Die SS selektierte die Häftlinge nach
"Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit" bei ihrer Ankunft in Auschwitz:
Kinder, Schwangere, Alte, Kranke und Behinderte, alle, die nicht arbeiten
konnten, wurden in den Gaskammern ermordet. Sybille Steinbacher beschreibt
Vernichtungsstrategien im Kontext der europaweiten Mordpolitik der
Nationalsozialisten.

Die Endphase

Vor der Befreiung des Lagers häuften sich die Gerüchte und Pressemeldungen
über die Zustände und die Massenmorde in den KZs. Obwohl auch die
Alliierten die Vernichtungsanlagen kannten, griffen sie nicht ein oder an.
Im Herbst 1944 begannen die Nationalsozialisten damit, Häftlinge zu
evakuieren. Viele von ihnen, darunter auch Anne Frank, starben schließlich
in anderen deutschen Lagern. Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische
Soldaten das KZ Auschwitz. Sie fanden noch ca. 7.000 Häftlinge vor, die
überlebt hatten.

Nach der Befreiung

Die Nachgeschichte von Auschwitz war zunächst von medizinischer Hilfe, bald
aber von juristischer Aufarbeitung geprägt. Das Polnische Rote Kreuz
errichtete ein Lazarett für die restlichen Gefangenen, von denen noch viele
an den Folgen der Inhaftierung starben. Die überlebenden Häftlinge trugen
nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schäden davon, die nicht mehr
zu heilen waren. Später haben sowjetische und polnische
Untersuchungskommissionen die Zahl der Menschen zu ermitteln versucht, die
in Auschwitz gestorben sind. Heute geht man davon aus, dass die
Nationalsozialisten zwischen 1,1 und 1,5 Mio. Menschen in Auschwitz und
ungefähr fünf bis sechs Mio. Juden insgesamt im Krieg ermordet haben. Im
Juli 1947 wurde das Lager zur Gedenkstätte für die Gräueltaten des
Nationalsozialismus, und 1979 nahm die UNESCO Auschwitz-Birkenau als
Weltkulturerbe auf. Auschwitz-Prozesse und Auschwitz-Lüge bestimmten die
weitere Nachkriegszeit. Sybille Steinbacher informiert ausführlich über
Gerichtsprozesse, die, auch auf polnischem Gebiet, gegen ehemalige
SS-Angehörige geführt wurden. Das letzte Kapitel über die Auschwitz-Lüge
nennt in Kürze pseudo-wissenschaftliche Werke, die den Holocaust leugnen,
samt deren juristischen Folgen.

Titelaufnahme

Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte. (C. H. Beck
Wissen), München, 2004, 128 Seiten, 7,90 Euro; ISBN: 3-406-50833-2


INFO

Dr. Sybille Steinbacher
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
GA 4/141
Tel.: 0234/32-22539,
E-Mail: sybille.steinbacher at ruhr-uni-bochum.de